Schatzfinder
kommen nicht sofort auf die Antwort, Ihr Adrenalinspiegel steigt. Sie wissen ja, dass der Lehrer bereits die richtige Antwort im Kopf hat. Wenn Sie sagen, was er im Kopf hat, bekommen Sie die volle Punktzahl. Wenn nicht, mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Sechs. So lauten die Regeln dieses Spiels.
Also überlegen Sie nicht gemeinsam mit dem Lehrer und den anderen Schülern, wie man die Aufgabe lösen könnte, sondern Sie bemühen sich, auf diese eine Antwort aus dem Kopf des Lehrers zu kommen. Denn Ihr Gehirn hat gespeichert: Der Lehrerhat immer recht. Spätestens, wenn Sie mal ernsthaft über eine selbst gemachte Antwort nachgedacht haben, einen kreativen Vorschlag gemacht haben und dafür ein Sechs bekommen haben, weil Ihre Antwort nicht der richtigen Schublade entsprach, sind Sie konditioniert: Der Lehrer ist eine Institution. Institutionen haben immer recht. Und wenn Sie heil durchkommen wollen, müssen Sie alles tun, um sich unterzuordnen und es ihnen recht zu machen.
Institutionen werden sehr böse, wenn die von ihnen Abhängigen andere Schubladen als die offiziellen aufmachen.
Und dabei geht es überhaupt nicht um die richtige Antwort, sondern nur um die richtige Schublade. Wenn ein Schüler in der Klassenarbeit 21 mit 13 multiplizieren soll und dies nicht nach der im Unterricht erlernten Methode »schriftliche Multiplikation« macht, sondern viel schneller, cleverer und kreativer mithilfe von Linien, so wie es in China üblich und auf You Tube zu sehen ist, oder mit typisch indischem Pragmatismus, einem Ruck-zuck-Verfahren wie es Ranga Yogeshwar einmal im Fernsehen demonstriert hat, dann nützt es nichts, dass als Ergebnis 273 dasteht. Denn das Ergebnis zählt ja nicht, wenn der Rechenweg ein anderer ist als der, den der Lehrplan vorschreibt. Ein unüblicher, im Internet gefundener Lösungsweg lässt den Schüler dastehen, als hätte er das Ergebnis von jemand anderem als der Institution eingeflüstert bekommen – und darauf steht die Höchststrafe! Institutionen werden sehr böse, wenn die von ihnen Abhängigen andere Schubladen als die offiziellen aufmachen.
Regelbrecher erreichen ihre eigenen Ziele, Regelkonformisten erreichen die Ziele der anderen.
So lernen wir, dass wir am besten lernen, wenn wir regelkonform lernen, ja überhaupt regelkonform sind und die Verfahren anwenden, die alle anwenden. So werden wir in das Leben entlassen und wissen eines ganz genau: dass wir uns an die Regeln halten müssen. Das tun wir auch brav! Und dann gibt es noch diejenigen, die die Regeln nicht beachtet haben, die falsche Antworten gegeben hatten, die Fragen stellten, die infrage gestellt haben, die infrage gestellt wurden. Sie fallen aus demDurchschnitt und zu einem großen Teil komplett aus dem System raus. Sie fallen entweder weit unter den Durchschnitt, oder und das ist ein großer Teil der Regelbrecher – sie werden extrem erfolgreich und leisten Großartiges. Das sind diejenigen, die Außergewöhnliches erreichen, weil sie neue Optionen außerhalb des Durchschnitts gesucht und gefunden haben. Sie gründen Firmen, erfinden ganze Branchen neu, entwickeln außergewöhnliche Produkte, werden Führungspersönlichkeiten, werden Vorbilder, werden reich, verändern die Welt. Regelbrecher erreichen ihre eigenen Ziele, Regelkonformisten erreichen die Ziele der anderen. Ein Schüler, der staunend die Biografien der zehn reichsten Menschen der Welt studiert hatte, machte anschließend seinem Vater einen Vorschlag für eine neue Notenskala: »sehr gut – gut – befriedigend – ausreichend – wohlhabend.«
Unser Bildungssystem hat versagt! Schon allein deshalb, weil wir immer andere dafür verantwortlich machen, uns weiterzuentwickeln. Die Soziologin Annette Lareau von der University of Maryland führte vor einigen Jahren mit einer Gruppe von Drittklässlern eine faszinierende Untersuchung durch. Sie wählte schwarze und weiße, wohlhabende und arme Kinder aus und konzentrierte sich schließlich auf zwölf Familien. Lareau und ihr Team besuchten jede Familie mindestens 20-mal für jeweils mehrere Stunden. Sie und ihre Mitarbeiter baten die Testpersonen, sie einfach wie den Haushund zu behandeln, und begleiteten sie mit dem Kassettenrekorder in der einen Hand und dem Notizblock in der anderen in die Kirche, zum Fußballspielen und zum Arzt. Man würde erwarten, dass sich nach einer derart ausführlichen Untersuchung von zwölf verschiedenen Haushalten zwölf vollkommen unterschiedliche Erziehungsstile
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