Schau mir ins Herz
Ta Dentella schlief, dann schrieb sie Rosie, was passiert war, und flehte sie an, sich mit John in Verbindung zu setzen und ihm zu sagen, dass er sofort kommen und sie von hier fortbringen solle.
Es dämmerte schon, als sie die sieben eng beschriebenen Seiten faltete und in ein Kuvert steckte. Nun galt es, das nächste Problem zu lösen: Wie sollte sie den Brief auf den Weg nach England bringen? Tante Lucia, dachte sie. Sie würde versuchen, die alte Dame, ohne ihr Wissen freilich, für ihr Vorhaben einzuspannen.
„Könntest du diesen Brief für mich aufgeben?“, fragte Carol sie am Tag darauf, als Tante Lucia sie bei einer endlosen Anprobe beraten hatte und sich auf den Heimweg machen wollte. „Und die Sache für dich behalten? Ich möchte nicht, dass Nicolas davon erfährt.“
Die Brauen der alten Dame schossen in die Höhe. „Wem schreibst du? Etwa einem Mann? Dann natürlich nicht, außer du hättest ihm mitgeteilt, dass du verlobt bist und ihm den Laufpass gibst …“
„Nein, nein, Tante Lucia. Der Brief geht an eine Freundin in London. Ich will, dass sie ein ganz besonderes Geschenk für Nicolas besorgt.“
„Oh, eine Überraschung! Wie romantisch! Hast du eine Briefmarke da? Nein? Kein Problem, ich kümmere mich darum.“ Tante Lucia stopfte das Kuvert in ihre Handtasche, und Carol atmete auf.
Die nächsten Tage hielt die Hoffnung auf Johns baldige Ankunft und ihre Rettung sie aufrecht. Carol gab sich charmant und liebenswürdig, wenn sie in Nicolas’ Begleitung in der Öffentlichkeit auftrat, lächelte und plauderte mit den Leuten, die ihr vorgestellt wurden, und ihr gewinnendes Benehmen brachte ihr die Sympathien aller ein. Nun, ich kann es mir leisten, gewinnend zu sein, sagte sie sich. Nicht mehr lange, und ich bin wieder zu Hause, in Sicherheit, unter Menschen, die ich kenne.
Nicolas und sie stritten nicht mehr; im Gegenteil, er schien umso entspannter zu werden, je mehr Zeit verging. Es war, als hätten sie einen Waffenstillstand geschlossen, und als bemühe er sich zu vergessen, was zwischen ihnen vorgefallen war, um stattdessen heiter und unterhaltend zu sein. Wäre Carol nicht langsam in Sorge gewesen, weil John ausblieb, hätte sie die Zeit, die sie mit Nicolas verbrachte, ohne Zweifel genossen, denn auch wenn sie es nicht wollte, fühlte sie sich noch immer sehr zu ihm hingezogen.
Mehr als ein Mal ertappte sie sich dabei, dass sie überlegte, wie es sein würde, wenn sie ihm wirklich etwas bedeutete. In manchen Momenten spürte sie, wie sein Blick auf ihr ruhte, und stellte sich vor, dass es so wäre. Dass er sie heiraten wollte, weil er sie liebte. Aber derartige Fantasien waren gefährlich, weil sie mit einem durchgehen konnten, und Carol verbot sie sich.
John kam nicht. Fünf Tage vergingen, dann sieben, und sie fragte sich, ob er womöglich krank war oder ob Rosie ihn nicht hatte auffinden können oder ob die Post streikte. Sie versuchte, ihre Nervosität vor Nicolas zu verbergen, allerdings ohne Erfolg.
„Werden die Verpflichtungen der Verlobungszeit dir zu viel?“, wollte er wissen.
Carol schüttelte den Kopf. Wenn er sie auf diese Weise anlächelte und sie mit seinen dunklen Augen ansah, konnte sie sich seiner Attraktivität nur schwer entziehen.
Er war gekommen, um sie zu einem Mittagessen mit einigen Mitgliedern seiner Familie abzuholen. Der Postbote traf ein, als er schon da war, und brachte ein halbes Dutzend Briefe – Glückwünsche von Freunden aus England, aber auf einem der Umschläge konnte Carol die Handschrift ihres Bruders erkennen.
„Wir haben noch eine Menge Zeit“, sagte Nicolas träge, als sie die Briefe in Empfang genommen hatte. „Lies sie. Ich setze mich solange ans Fenster und genieße die Aussicht.“ Obwohl er lächelte, konnte kein Zweifel daran bestehen, dass er einen Befehl geäußert hatte.
Carol hob Johns Brief bis zuletzt auf. Vielleicht würde sie ihn unauffällig beiseitelegen können, um ihn zu lesen, wenn sie allein war. Doch als sie den Blick hob, sah sie, dass Nicolas sie amüsiert beobachtete.
„Du hast einen vergessen“, meinte er leichthin. „Möchtest du, dass ich ihn dir vorlese, während du dich fertig machst?“
Sie hatte keine Wahl. Carol biss die Zähne zusammen und öffnete das Kuvert. Sie versuchte, eine gleichmütige Miene aufzusetzen, während sie Johns Zeilen las.
Der Brief war kurz. Mit keiner Silbe erwähnte ihr Bruder ihren Hilferuf an ihn, es gab keinen einzigen Hinweis darauf, dass er kommen und sie holen
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