Schau mir ins Herz
Stirn. „Mein Gott, wie konnte ich so ungerecht sein? Wie konnte ich mich so irren?“
„Weil du nie auch nur ansatzweise daran gezweifelt hast, dass du im Recht bist“, erwiderte Carol und lachte. Es fühlte sich wunderbar an, wieder unbeschwert und fröhlich sein zu können. „Du bist es nicht anders gewöhnt, dein ganzes Leben lang. Dass dem unfehlbaren Barone de Comino ein Irrtum unterläuft – und erst recht einer von solcher Tragweite –, das war schlechterdings unmöglich.“
Nicolas streichelte ihr übers Haar. „Ta Dentella erklärte mir rundheraus, ich müsse mit Blindheit geschlagen sein, dass ich meine Gefühle vor dir verberge. Sie warnte mich, ich würde euch beide verlieren, dich und das Kind, und wenn es so käme, sei es einzig und allein meine Schuld.“
„Ich habe auch meinen Anteil an dem, was zwischen uns schiefgelaufen ist“, sagte Carol ernst. „Ich dachte, ich könnte aufhören, dich zu lieben, wenn ich nur lange genug so tue, als würdest du mir nichts bedeuten. Ich habe dich mit Absicht glauben lassen, dass du mir gleichgültig bist. Aber ich konnte unmöglich riskieren, noch einmal verletzt zu werden.“
Nicolas stöhnte. „Und die ganze Zeit habe ich mich wie verrückt nach dir gesehnt. Jedes Mal, wenn wir zusammen waren, wollte ich dich in meine Arme nehmen und deine unerschütterliche Selbstbeherrschung endlich bröckeln sehen. Ich wollte dich küssen, um diese entsetzliche Kälte in dir zum Schmelzen zu bringen.“ Er verstummte, dachte nach. „Du hast mich auf Abstand gehalten, bis zu dem Abend, als ich selbst die Beherrschung verlor“, fuhr er schließlich fort. „Und danach wusste ich, dass es dir unerträglich war, wenn ich dich auch nur berührte.“
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mir gewünscht habe, dass du mich liebst“, sagte Carol leise. „Aber nicht so – nicht mit dieser Feindseligkeit.“
„Und gestern Abend“, sprach Nicolas weiter, „nach dem Interview mit Varelle, als ich erkennen musste, dass ich dich völlig zu Unrecht beschuldigt hatte, fragte ich mich, wie du, nach alldem, was du von mir erdulden musstest, je etwas anderes als Hass und Abscheu für mich empfinden konntest.“
„Ich wollte dich hassen“, gab Carol zu. „Ich wollte aufhören, dich zu lieben, aber es ging nicht.“
„Ich war so blind!“
„Wie hättest du wissen sollen, was wirklich in mir vorging?“ Ein scheues Lächeln erschien auf Carols Zügen. „Du konntest mir ja nicht ins Herz sehen.“ Sie hielt inne, als sie seine fragende Miene gewahrte. „So lautet ein hiesiges Sprichwort. ‚Sieh nicht in mein Gesicht, wenn du wissen willst, ob ich dich liebe. Sieh in mein Herz‘“, zitierte sie.
Auch Nicolas lächelte, und als er sich über sie beugte, um sie voller Leidenschaft zu küssen, waren die bitteren Kerben um seinen Mund verschwunden.
Eine lange Zeit später wanderten sie Hand in Hand den steilen Feldweg hinauf. Es hatte aufgehört zu regnen, und die gerillten Fahrspuren glänzten nass im Sonnenschein.
Die Erde unter ihren Füßen war weich, vollgesogen mit Feuchtigkeit und von einem satten, rötlichen Braun. Auf dem Laub der Zitronenbäume glitzerten noch Wassertropfen, zwischen den dunkelgrünen Blättern leuchteten die reifen gelben Früchte hervor. Und aus dem Boden begann frisches Gras zu sprießen – winzige, smaragdfarbene Lanzen, die aussahen wie Sternspitzen.
– ENDE –
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