Schau mir ins Herz
weiter.“
„Carols Eltern sind tot“, erklärte Nicolas rasch. „Daher können wir uns an diese Tradition nicht halten.“
„Es tut mir so leid, ich bin wirklich taktlos“, sagte die Tante bedauernd. „Aber heutzutage ändert sich alles so schnell. Ich erinnere mich noch an das letzte Mal, Nicolas, als du …“
„Tante Lucia, du musst Carol unbedingt von deinem leidenschaftlichen Interesse an unserem einheimischen Kunsthandwerk erzählen“, unterbrach Nicolas ihren Redefluss. Carol fragte sich, ob die zierliche alte Dame im Begriff gewesen war, einen indiskreten Vergleich zwischen den damaligen und den heutigen Eheabsprachen ihres Neffen zu ziehen.
Sie konnte Nicolas nicht danach fragen. An diesem und den folgenden Tagen hatte sie das Gefühl, es mit zwei verschiedenen Personen zu tun zu haben.
Auf der Verlobungsparty und bei den zahlreichen Besuchen, die sie in der darauffolgenden Woche absolvierten, spielte er den zärtlichen Bräutigam. Ohne seine angebliche Liebe offen zu zeigen, ließ er dennoch keinen Zweifel an seinen „Gefühlen“. Die Art, wie sein Blick auf Carol ruhte oder wie er sie anlächelte, musste jedermann den Eindruck vermitteln, dass er sich für den glücklichsten Mann von ganz Gozo hielt.
Sobald sie allein waren, schien seine Zuneigung wie weggeblasen. Er gab sich kühl, spöttisch und begegnete ihr mit einer beinahe nachsichtigen Geringschätzigkeit, die Carol unerträglich fand. Und obwohl er behauptete, sie nicht gefangen zu halten, hatte sie den Eindruck, dass er es genoss, jeder Fluchtmöglichkeit, die sich für sie hätte ergeben können, einen Riegel vorzuschieben.
Tante Lucia lud sie zu einem längeren Aufenthalt bei ihr ein.
„Es geht doch nicht an, dass Nicolas dich die ganze Zeit in diesem alten Turm versteckt“, erklärte sie. „Du kommst für ein paar Tage zu mir, und wir amüsieren uns ein bisschen.“
Aber Nicolas lachte und schüttelte den Kopf. „Ich kenne dich, Tante Lucia. Du würdest Carol nur von einem Kunsthandwerksbetrieb zum andern schleppen, bis sie völlig erschöpft ist, und so viel reden, dass ihr der Kopf schwirrt. Nein, meine liebste Tante, Carol ist an ihrem derzeitigen Wohnort gut aufgehoben.“ Er sprach leicht und scherzend, doch Carol hörte den stählernen Unterton in seiner Stimme.
„Dann bestehe ich wenigstens darauf, ihr beim Aussuchen der Aussteuer zu helfen.“ Die alte Dame wandte sich an Carol. „Du brauchst Abendkleider, und – Nicolas, mein lieber Junge, dieses Thema ist nicht für deine Ohren bestimmt – natürlich auch Wäsche. Ich kenne eine Frau, die herrliche Seidennachthemden anfertigt, mit wunderbaren Stickereien, und einen Schuhmacher …“
„Wir könnten uns morgen in Victoria treffen und alles Notwendige besorgen“, warf Carol ein. Wenn sie mit Tante Lucia unterwegs war, würde sich sicherlich eine Möglichkeit ergeben, zu fliehen. Dann konnte sie den Bus nach Mgarr nehmen und von dort aus die Fähre nach Malta. Bestimmt ließ sich ihr Verlobungsring verkaufen. Er war mit einem Diamanten und zwei Saphiren besetzt, damit er, wie Nicolas ihr erklärt hatte, zu ihren Augen passte.
Noch bevor Tante Lucia antworten konnte, ergriff Nicolas das Wort. „Es ist passender, wenn die Leute zu Carol kommen“, sagte er glatt.
„Das ist natürlich nicht wahr“, erwiderte die alte Dame und zwinkerte Carol zu. „Aber der arme Junge muss bei Laune gehalten werden.“
Am Abend brachte Nicolas sie zurück zum Wehrturm und übergab sie Ta Dentellas Fürsorge. Die alte Spitzenklöpplerin schien darin aufzugehen, sich um die Braut ihres ehemaligen Schützlings zu kümmern, und versicherte Nicolas, dass sie gut auf sie achtgebe. „Denn Sie sind sein Juwel“, erklärte sie Carol, während sie die Türen sorgfältig abschloss, nachdem Nicolas gegangen war. „Und wer könnte besser darauf aufpassen als Ta Dentella?“
Was war es noch gewesen, was Rosie am Tag vor ihrer Abreise gesagt hatte? Carol runzelte die Stirn. Irgendetwas über einen finsteren Burgherrn, der Frauen verschleppt und sie gefangen hält, erinnerte sie sich. Rosie wäre entsetzt, wenn sie wüsste, wie nah sie der Wahrheit gekommen war mit ihrem Scherz.
Carol erstarrte. Aber natürlich, das war es! Wenn sie nicht fliehen konnte, brauchte sie Hilfe von außen. Sie musste nur Rosie schreiben – John war noch auf Geschäftsreise, das wusste sie – und eine Möglichkeit finden, den Brief heimlich abzuschicken.
Sie wartete, bis sie sicher sein konnte, dass
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