Schau mir ins Herz
Sannat zu verkaufen war ebenso unmöglich, als hätte sie vorgehabt, die Kronjuwelen direkt im Tower von London zu veräußern.
Sie grübelte noch darüber nach, was sie nun tun sollte, als ein lautes Hupen und eine gelbe Staubwolke den alten, zerbeulten Omnibus ankündigten, der nach Victoria fuhr. Carol atmete auf. In der kleinen Inselhauptstadt hatte sie weit bessere Chancen, den Ring zu verkaufen und unerkannt zu entkommen.
Wenige Minuten später saß sie auf einer der harten Lattenrostbänke und versuchte, die neugierigen Blicke der anderen Fahrgäste zu ignorieren. Der Schaffner kam, während der Bus bereits die unebene Straße nach Victoria entlangrumpelte, und Carol erklärte ihm, dass sie ihre Geldbörse zu Hause vergessen habe. „Kein Problem“, sagte der Mann mit einem freundlichen Schulterzucken. „Dann zahlen Sie eben morgen. Oder ein anderes Mal.“
Als sie in Victoria ausstieg, fühlte sie neue Zuversicht. Zwischen all den Touristen fiel sie nicht auf, und ein Schmuckgeschäft hatte sie schnell gefunden.
Schwungvoll betrat sie den kleinen Laden und steuerte auf den Tresen zu. Auf halben Weg hielt sie erschrocken inne. Der Mann, der dort stand und nun von seiner Zeitung hochblickte, war niemand anderer als der Juwelier, der sie im Wehrturm aufgesucht hatte, um ihr den Verlobungsring anzupassen.
Carol registrierte das Erstaunen in der Miene des älteren Herrn, das freilich nicht so groß sein konnte wie ihre eigene Bestürzung, als sie ihn erkannte. Ein Schmuckstück anonym zu veräußern, wie sie es geplant hatte, war eine Sache. Ihren Verlobungsring an genau den Händler zurückzuverkaufen, der ihn ihr angefertigt hatte, eine völlig andere.
„Miss Goodwin! Welch eine Überraschung!“ Der Juwelier eilte um die Ladentheke herum. „Was darf ich für Sie tun?“
Carol hatte keine Ahnung, was sie antworten sollte. Sie ließ sich in den Sessel neben einer der Glasvitrinen sinken und presste ihre Hände gegeneinander. Ihr Blick fiel auf den Ring an ihrem Finger. Er funkelte, blitzte, klagte sie geradezu an.
„Passt er nicht richtig?“, erkundigte sich der Juwelier eifrig, als sie nichts äußerte. „Dabei habe ich doch so sorgfältig …“
„Aber nein, Bartozzi, Sie haben ganz hervorragende Arbeit geleistet.“ Carol fuhr zusammen, als sie die Stimme erkannte. Im nächsten Moment stand Nicolas an ihrer Seite und legte ihr seine Hand auf die Schulter. „Carol, mein Schatz, ich entschuldige mich tausendmal für die Verspätung“, sagte er und lächelte erst sie an, dann den Juwelier. „Ich bin aufgehalten worden …“
Carol war wie gelähmt. Sie starrte Nicolas an, unfähig, ein Wort über die Lippen zu bringen. Woher hat er diese unheimliche Fähigkeit, plötzlich und lautlos zu erscheinen, wenn ich es am wenigsten erwarte?, fragte sie sich benommen.
„… dabei wollten wir uns bei Ihnen treffen, Signor Bartozzi, um ein Paar Ohrringe auszusuchen, nachdem Carol ihre anderen Einkäufe erledigt hat“, fuhr Nicolas an den Juwelier gewandt fort. „Und zwar mit Saphiren in einem ebenso klaren Blauton wie die Steine auf dem Ring.“ Er lächelte auf Carol herab und verstärkte den Druck seiner Hand auf ihrer Schulter. Carol nahm sich zusammen, nickte und lächelte zurück.
„Ja“, stimmte sie zu, als befände sie sich im herzlichsten Einverständnis mit ihrem Verlobten. „Sie haben eine wunderbare Farbe.“
Carol fühlte sich noch immer wie betäubt, als sie aus der Stadt hinausfuhren. Sie hatte geglaubt, von hier aus in die Freiheit zu gelangen. Nun klopfte ihr das Herz zum Zerspringen, wenn sie daran dachte, was ihr bevorstand. Die unterschwellige Anspannung, die von Nicolas ausging, machte ihr Angst.
„Warum hast du mir nicht gesagt, dass du nach Victoria wolltest?“, fragte er nach einer Weile. Er klang erstaunlich ungezwungen. „Ich hätte dich doch hinbringen können. Ich weiß, ich habe den Ruf, ein halsbrecherischer Autofahrer zu sein, aber dass du es vorziehst, einen unserer klapprigen Inselbusse zu nehmen – das ist ein ganz schöner Schlag für mein Ego.“
„Woher wusstest du es?“
„Wo ich dich finden würde?“, fragte er zurück. „Man hatte nichts Eiligeres zu tun, als es mir zu erzählen. Als ich in Sannat war, erfuhr ich von mindestens zwölf Leuten, dass sie meine bezaubernde Verlobte gesehen hatten, und mindestens sieben davon zeigten sich über die Maßen erstaunt, dass sie mit dem Omnibus gefahren war.“
Carol schwieg.
„Hattest du wirklich vor,
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