Schau mir ins Herz
attraktiv? Oder ein finsterer Bösewicht aus einem Schauerroman, der Frauen raubt und in seine Festung verschleppt?“
„Nun …“ Carol zögerte. Was war das hervorstechendste Merkmal an Nicolas? Seine Größe? Der beunruhigende Blick, mit dem er einen ansah? Oder seine befehlsgewohnte Art, mit der er davon ausging, jeder habe zu tun, was er verlangte, sogar Varelle?
„Er ist ein Mann, der es gewöhnt ist, seinen Kopf durchzusetzen“, erklärte ihr Bruder. „Wie sonst hat er es geschafft, dich in dieses aberwitzige Projekt zu verwickeln?“
„Es ist gar nicht so aberwitzig“, wandte Carol ein. „Und wenn ihr zwei Tage länger bleiben würdet, könnten wir zusammen heimreisen. Wäre das nicht machbar?“
„Unmöglich.“ John schüttelte den Kopf. „Ich habe am Montag einen Geschäftstermin. Außerdem sind unsere Flüge nicht umbuchbar.“
Dann lasst sie verfallen, hätte Carol gern gesagt. Lasst sie verfallen, und bleibt hier bei mir. Aber sie wusste, genauso gut hätte sie mit dem Felsen von Gibraltar verhandeln können. Und außerdem – wovor sollte sie Angst haben?
2. KAPITEL
Carol stand am Kai von Mgarr und winkte John und Rosie hinterher. Im Hafenbecken schaukelten die kleinen, bunt gestrichenen Fischerboote anmutig auf den Wellen, und die Fähre nach Malta hatte den Wellenbrecher bereits passiert. Ihr blassblauer Rumpf schimmerte im Sonnenlicht, und John und Rosie standen an Deck und winkten zurück.
Eine Woge der Zuneigung erfasste Carol, für Rosie mit ihrer unbeschwerten Art und für John, der so vertrauenswürdig und anständig und so vernünftig war. Sie konnte sich hundertprozentig darauf verlassen, dass er ihre kostbaren Entwürfe im Atelier abliefern würde.
„Hallo, Sie da – sind Sie Carol?“ Als sie die Stimme hörte, drehte Carol sich um. Sie hatte den Landrover, der hinter ihr parkte, gar nicht kommen hören. Eine junge Frau lehnte sich aus dem Fenster auf der Fahrerseite und lächelte. „Varelle hat uns geschickt, um Sie zu holen“, rief sie. „Wir waren schon im Hotel, und dort sagte man uns, dass wir Sie hier finden.“
Einen Herzschlag lang glaubte Carol, der dunkelhaarige Beifahrer neben dem Mädchen sei Nicolas, doch auf den zweiten Blick sah sie, dass der Mann blasser und schmaler war als der barone. Er war attraktiv, ohne dass die Ausdruckslosigkeit seiner hübschen Züge es mit Nicolas’ eindringlicher Ausstrahlung hätte aufnehmen können.
„Das ist Tony“, stellte die junge Frau ihren Begleiter vor und lächelte offen. „Ihr Partner. Und ich bin Kate. Kostüme, Requisiten, Gläserspülerin, Mädchen für alles und so weiter.“
„Ich war gespannt auf Sie“, wandte Tony sich an Carol und lächelte ebenfalls. „Ich hoffe, Sie sind keine solche Hexe wie Madrilena. Aber ich sehe schon, Sie sind anders. Das ganze Gegenteil von ihr. Wir werden gut miteinander auskommen, da bin ich sicher.“
Carol stieg ein und nahm amüsiert zur Kenntnis, wie er sich ihretwegen in Szene setzte. Den ganzen Weg vom Hafen, an der Uptodate Garage, der einzigen Disco, und der traditionsreichen Gleneagels Bar vorbei, gab er den großen Mimen für sie.
„Und was steht denn heute auf dem Drehplan?“, fragte er schließlich an Kate gewandt.
„Die Ankunft der türkischen Flotte – zwei Schiffe, um genau zu sein – heute Morgen. Der Hochzeitszug, dem die Gefangenen entgegenkommen, am Nachmittag. Die Zitadelle soll heute Abend in Flammen aufgehen, aber wo Varelle die Massen von Leuten herkriegen will, wenn sämtliche Gozitaner auf dem Volksfest sind, ist uns allen ein Rätsel“, antwortete Kate sachlich.
„Hört sich ziemlich dramatisch an“, bemerkte Carol.
„Kennen Sie die Story etwa nicht?“, fragte Tony. „Sie ist hoch dramatisch, romantisch und alles andere, was sonst noch auf – isch“ endet. Bombastisch, idiotisch und ansonsten völlig …“
„Halt den Mund, Tony“, mischte Kate sich ein. „Jedermann weiß, dass du die Rolle des mutigen Korsaren liebst. Er ist der Anführer der Seeräuber“, wandte sie sich an Carol, während sie in einen Feldweg einbog. „Die Türken pflegten Gozo in regelmäßigen Abständen zu überfallen, und im Jahr 1551 kamen sie mit einer Flotte von hundertfünfzig Galeeren.“
„Unter der Führung eines Typen namens Sinam Baxa“, warf Tony ein.
„Er belagerte die Zitadelle“, ergriff Kate wieder das Wort, „und als er sie eingenommen hatte, deportierte er sechstausend Gozitaner als Sklaven. Nur ein paar wenige konnten
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