Schauen sie sich mal diese Sauerei an
während der Halbzeitpause in die Klinik? Erstens wird es garantiert nicht so schlimm sein, da kann man auch nach Abpfiff gerettet werden, und zweitens wird man vermutlich eh nicht sofort behandelt, weil der Halbgott in Weiß auch erst das Ergebnis abwartet, bevor er sich zum kranken Pöbel in die Ambulanz begibt. Verkehrs- und Arbeitsunfälle gibt es auch keine, da die sonst so hektische Stadt für mindestens neunzig Minuten zur Ruhe kommt. Natürlich hatten Hein und ich Pech. Die Hoffnung, das Spiel vollständig verfolgen zu können, wurde jäh in der 25. Spielminute zerstört. Der akustische Alarm ertönte, und mir war klar, dass mein Sitzplatz im Raucherstadion Vergangenheit war. »Einsatz für den Rettungswagen, internistischer Notfall, Am Heidefeld 11 auf den Namen Conelli«, sprach es aus dem Lautsprecher in der Wand. Sofort brauste Hein auf: »Egal wer es ist, egal was er hat - auf jeden Fall ein Blödmannsgehilfe! Am Heidefeld, das ist zwei Straßen vom Krankenhaus entfernt, wenn der Heini nix an den Füßen hat, dann lass ich den zum Krankenhaus laufen!« Es half kein Fluchen - wir mussten los, Jogi und seine Mannen mussten ab jetzt ohne uns zurechtkommen. Auf dem Weg zum Rettungswagen hatte ich eine merkwürdige Fantasie: Hein hatte einen Patienten mit Herzrhythmusstörungen mit Mullbinden an den RTW gebunden; jetzt schleifte er den armen Kerl mit zügiger Schrittgeschwindigkeit hinter sich her und rief wiederholt: »Wer unverletzte Füße hat, der kann auch laufen!« Der Patient versuchte, Schritt zu halten, stolperte aber immer wieder - ein bisschen erinnerte das Bild in meinem Kopf an Westernszenen, wenn der Viehdieb an ein Pferd gebunden durch die Stadt gezogen wird und der Sheriff zufrieden seinen Whiskey trinkt. »Ankommen, einpacken, wegfahren, zurück zur Wache, zweite Halbzeit gucken!«, formulierte Hein seine Regieanweisung, wie der uns bevorstehende Einsatz abzulaufen hatte. Nach kurzer Anfahrt erreichten wir die Einsatzstelle. Im zweiten Obergeschoss stand eine dunkelhaarige Frau am Fenster, wild gestikulierend schrie sie: »Hier oben! Kommen Sie schnell!« Als wir die Tür erreichten, surrte bereits der Türöffner, es schien wirklich dramatisch zu sein. Wir hetzten samt medizinischem Equipment die Treppe hoch und betraten eine völlig überfüllte 2-Zimmer-Wohnung. Dort hielten sich ungefähr 15 Personen auf, alle sahen südländisch aus und jammerten und zeterten. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was hier gerade geschah - wir waren in eine südeuropäische Großfamilie geraten, von der ein Familienmitglied anscheinend schwer erkrankt war. »Wer ist hier der Patient?«, rief ich gegen den Geräuschpegel von circa 110db. »Unser Sohn ist krank«, erwiderte die Frau, die wir bereits im Fenster gesehen hatten, in jammerndem Tonfall. »Wer ist Ihr Sohn, und wo ist Ihr Sohn?« »Mein Sohn ist im Badezimmer, im Badezimmer«, antwortete die Dame klagend. Also auf ins Badezimmer. Dort angekommen, fanden wir unseren Patienten. Sohnemann, circa zwanzig Jahre alt, saß auf dem geschlossenen Toilettensitz und umarmte würgend einen Putzeimer. »Rettungsdienst, schönen guten Tag«, stellte ich mich vor. Nickend hob sich der Kopf, um sofort wieder würgend im Eimer zu verschwinden. »Lassen Sie mich bitte einmal in den Eimer schauen.« Er hielt mir den Eimer hin, sodass ich einen Blick hineinwerfen konnte. Ich war enttäuscht. Der Eimer war so gut wie leer, kein buntes Potpourri der letzten Speisen, nur ein paar Milliliter farbloser Speichel hatte sich am Boden gesammelt. Die gesamte Familie war Hein und mir ins Badezimmer gefolgt, es war ähnlich eng wie in unserem Raucherfernsehraum. So ist das in südländischen Familien, alle nehmen am Schicksal des Einzelnen teil. Wenn ein Mitglied der Familie auch nur einen eingewachsenen Fußnagel hat, trifft sich der gesamte Clan, um gemeinsam zu klagen. Es wird festgestellt, dass eingewachsene Nägel schon seit sieben Generationen immer wieder Vorkommen, man fragt sich, welcher Urahn diesen Fluch wohl über die Familie gebracht hat und was man dagegen tun kann. Dabei wird gemeinsam Tee getrunken, geweint, gebetet und der Neuwagenkauf des Onkels diskutiert - kurz gesagt, ein familiäres Happening. So gesehen haben Südländer, und damit meine ich alle Völker unterhalb von Österreich und der Schweiz, öfter Weihnachten. Eine solche Familienzusammenkunft gibt es in Familien in meinem Umfeld nur zum Jahrestag von Christi Geburt. Ich glaube nicht, dass,
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