Schauen sie sich mal diese Sauerei an
begutachten!« »Stimmt nicht«, widersprach Hein und fuhr fort: »Stell dir vor, es ist Silvesterabend. Bleigießen - verstehst du? Ich hab mal nen Drachen geschissen! Glaubt mir auch keiner, war aber so.« Beide lachten wir herzhaft. Die anschließende lebhafte Diskussion über die Vor- und Nachteile von mehrlagigen Hygienepapieren verlor sich ins Philosophische. Den Rest des Tages beschäftigten uns ein kettenrauchender Asthmatiker und ein Patient mit Kopfplatzwunde nach unsachgemäßen Heimwerkerarbeiten. Hein und ich plauderten während der Rückfahrt zur Wache über belangloses Zeug und freuten uns auf den bevorstehenden Feierabend. Hein erklärte mit einem Anflug von Romantik: »Nachher hab ich ein Rendezvous mit Carmen, der neuen Röntgenschwester! Spazieren am Fluss, lecker Essen, und dann schauen wir mal ...« »Glückwunsch, hoffentlich durchschaut sie dich nicht sofort, du alter Schürzenjäger. Der Teil mit >und dann schauen wir mal ...< dürfte dich wohl am meisten interessieren. Braucht ihr noch ne Anstandsdame? Wann und wo trefft ihr euch denn?« Nach dem Motto »Hätte er geschwiegen, man hätte ihn für klug gehalten« sagte Hein kein Wort mehr, sondern grinste nur süffisant in sich hinein. Plötzlich quäkte es aus dem Funkgerät: »04-83-01, habt ihr schon abgelöst?« »Mist, die Leitstelle, 50-50-Chance auf pünktlichen Feierabend oder den nächsten Einsatz«, jammerte Hein, an mich gewandt. Dann antwortete er bewusst freundlich: »Wir sind noch die alte Besatzung, müde und auf dem Weg zur Ablösung.« »Tut mir auch leid, Jungs, aber ich kann es nicht ändern. Sturz aus großer Höhe. Da müsst ihr noch mal ran. Einsatzstelle ist die Parkanlage neben der Kunstakademie, ihr werdet eingewiesen!«, funkte der Disponent. »Verstanden!«, quetschte Hein verbissen freundlich heraus und gab Gas. Hein machte mir ein wenig Sorgen. Normalerweise würde jetzt ein Redefluss über persönliches Pech, Ungerechtigkeit und empfundenen Weltschmerz losbrechen, der bis zum Erreichen der Einsatzstelle nicht abreißen würde. Heute aber blieb Hein ruhig. »Alles klar, Hein?« »Jaja, es fällt mir zwar schwer, und ich bin auch ein wenig vom Schicksal enttäuscht, aber ich werde keine negative Energie zulassen - das überträgt sich nachher nur auf mein Treffen mit Carmen.« Hein wusste genau, worauf ich hinauswollte. »Heute Abend werde ich mich verspäten, aber alles ist für irgendwas gut! Man begreift halt nur selten direkt die Zusammenhänge.« Jetzt machte ich mir wirklich Sorgen. »Normalerweise würdest du ausflippen, fluchen oder Schlimmeres veranstalten. Woher diese Ruhe? Du bist doch nicht irgendeinem esoterischen Meditationszirkel beigetreten - oder?« Hein konzentrierte sich auf das Überqueren einer Kreuzung, bevor er antwortete: »Und wenn es so wäre? Was würde sich ändern? Du kannst mich beleidigen, bezweifeln oder verleugnen - du bist und bleibst mein spiritueller Lehrer, so wie alle anderen Menschen und Wesen auch.« Mein Gesicht machte wohl einen wenig erleuchteten Eindruck, jedenfalls ergänzte Hein noch mit einem breiten Grinsen im Gesicht: »Mach dir keine Gedanken, ich lese zurzeit Bücher vom Dalai Lama, so mit Liebe und Frieden und so. Carmen ist Buddhistin, da will man ja mitreden können. Aber wenn du Wert darauf legst, kann ich dich auch weiterhin zusammenscheißen.« Hein war also noch der Alte, und mir war wieder wohl ums Herz, als wir die Einfahrt zur Kunstakademie erreichten. Wie versprochen, stand ein Passant bereit, um uns den Weg durch die Parkanlage zu zeigen. Nach kurzer Fahrt über mit Buchsbaumhecken gefasste Kieswege entdeckten wir den Ort des Geschehens. Auch nach über zehn Jahren Rettungsdienst fasziniert mich der Moment, in dem eine Einsatzstelle sich offenbart. Der Moment, in dem niemand etwas erklären muss und trotzdem jedem Beteiligten klar wird, was sich in den letzten Minuten abgespielt hat. Hein und ich hatten unseren Rettungswagen verlassen und waren an den Rand einer Hecke getreten. Das leise Knirschen unserer Sicherheitsschuhe auf den weißen Kieselsteinen wurde unsanft durch das Geschrei einer weiblichen Stimme überlagert. Noch konnten wir das Opfer nicht sehen, dennoch wussten wir anhand der raschelnden Bewegungen von Pflanzen, wo wir suchen mussten. Gut drei Meter oberhalb dieser Stelle verlief waagerecht ein starker Ast, der zu einem mächtigen Laubbaum gehörte. Hein schaute verdattert drein. »Runtergefallen ist klar. Aber warum überhaupt
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