Scheinbar verliebt
erklärte Marinells angebliche Appetitlosigkeit. Sie hob das Essen für ihre Mutter auf. Das musste aufhören – sobald sie Mrs Hernandez aus dieser Bruchbude geholt hatten.
„Sie können nicht hierbleiben“, sagte Lucy zu Esther.
Die Frau wischte sich das Gesicht ab und schüttelte ihren Kopf. Marinell übersetzte. „Sie kann nirgendwo hingehen. Sie hat kein Auto und will so nah am Krankenhaus bleiben, dass sie zu Fuß dorthin kommen kann.“
Ein Familienmitglied in Saving Grace unterkommen zu lassen, war gegen alle Regeln. Doch die Last auf Lucys Gewissen war zu schwer. Gott selbst schien Mrs Hernandez eine Einladung geschrieben zu haben. „Packen Sie Ihre Sachen zusammen“, sagte Lucy schließlich. „Wir fahren alle zusammen nach Saving Grace .“ Esther konnte mit in Marinells Zimmer wohnen. Irgendwie würden sie es schon schaffen, zumindest für den Augenblick.
Mrs Hernandez Hände flogen durch die Luft, während sie mit ihrer Tochter sprach.
„Meine Mutter will Carlos sehen. Sie will hier nicht weg.“
„Mrs Hernandez, es bringt Ihrem Sohn gar nichts, wenn Sie auch noch in diesem Loch hier krank werden. Und genau das wird passieren, wenn sie nicht hier verschwinden.“ Lucy hörte überall Geraschel und sie war sicher, dass es sich nicht um freundliche Nachbarn handelte, die eine Überraschungsparty geplant hatten. „Sie können die Nacht in Saving Grace verbringen und ich sorge dafür, dass Sie ins Krankenhaus gefahren werden, wann immer Sie wollen.“ Marinell übersetzte ins Spanische, was Lucy angeboten hatte.
„Meine Mutter dankt Ihnen.“ Neben Marinell nickte ihre Mutter und neue Tränen rannen über ihre eingesunkenen Wangen.
Trotz Mrs Hernandez’ ungepflegten Haares und ihres strengen Körpergeruches, zog Lucy sie in eine Umarmung. „Alles wird gut werden.“
Doch Lucy hatte keine Idee wie.
* * *
Die abgedeckten Teller standen schon auf dem Tisch. Jeder gute Südstaatler wusste, dass es kein Leben ohne Grüne-Bohnen-Auflauf gab.
Alex saß in Marcus Sinclairs Heimbüro. Er hörte die Türglocke läuten und bedeutete seinem Vater, die Tür zu schließen.
Ben Hayes starrte vom Computerbildschirm zurück, offensichtlich geschwächt, aber am Leben.
„Und Sie sind sicher, dass er es war?“ Es war das dritte Mal, dass Alex diese Frage stellte. Er konnte es einfach nicht glauben.
„Es tut mir leid.“ Hayes hielt sein Gesicht in die Laptopkamera in seinem Krankenbett in Deutschland. „Ich weiß, dass es nicht das Ergebnis ist, das Sie und Ihre Familie sich gewünscht haben.“
Alex und sein Team hatten nur zehn Minuten gebraucht, um alle nötigen Anrufe zu tätigen, die sie mit Ben auf Skype verbunden hatten.
„Sie wurden aus den Trümmern und dem Feuer geborgen“, warf Alex ein. „Woher wollen Sie wissen, dass nicht noch mehr Menschen gerettet wurden?“
Bens Stimme war schwach und rau. „Da ist alles zu Asche verbrannt.“ Er hielt einen Moment inne, um sich zu sammeln. „Ich war bei Bewusstsein, als sie mich geborgen haben. Ich habe … ich habe die Schreie gehört.“ Alex schloss seine Augen, als Ben fortfuhr. „Es tut mir leid, Mr Sinclair. Das kann keiner überlebt haben. Es ist einfach unmöglich.“
Das, was Alex empfand, konnte man nicht als Schmerz bezeichnen. Es waren brutale Wellen, die über ihn hereinbrachen, bis er das Gefühl hatte, an Ort und Stelle zusammensinken zu müssen. Sein Bruder. Tot.
Alex fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Er konnte seinen Vater hinter sich schniefen hören. „Wo war mein Bruder, als die Bombe im Gebäude explodiert ist?“
„Wenn ich mich recht erinnere … erzählte er gerade eine Geschichte, die die Kinder mitspielten.“
Das war ganz Will. Alex konnte ihn vor seinem geistigen Auge sehen, umringt von Kindern, die ihn anstrahlten.
Sein Vater zog seinen Stuhl näher an Alex heran. „Wie waren die letzten Tage meines Sohnes?“ Er wischte sich die Tränen von den Wangen. „War Will glücklich?“
„Wir haben viel gelacht, Mr Sinclair.“ Hayes war erschöpft, doch er lächelte. „Die Kinder haben ihn geliebt. Er hat ihnen Geschichten erzählt, mit ihnen gespielt, jedem ein kleines Geschenk überreicht. Ihr Sohn ist bei dem gestorben, was ihn erfüllt und glücklich gemacht hat. Er hat die Welt verändert – sie zu einem besseren Ort gemacht.“
Im Hintergrund konnte man Stimmen hören. Ben nickte jemandem zu, der hinter der Kamera zu stehen schien. „Ich muss zur Therapie. Aufstehen und die Flure
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