Schenk mir mehr als diese Nacht
gewechselt hatte, waren sie auch schon auf dem Weg zum Empfangssaal.
Erst hier stellte Sebastian sie seiner Schwester Annabelle vor. Aneesa erkannte in der eleganten schlanken Frau mit dem blonden langen Haar die Fotografin aus der Kirche. Als sie sich die Hand reichten und Annabelle sie zu ihrer Schwangerschaft beglückwünschte, spürte Aneesa eine zarte, gegenseitige Sympathie zueinander. Gleich darauf gratulierte sie dem glücklichen Paar, das nur Augen für sich selbst hatte, und begrüßte zwei von Sebastians Brüdern – Lucas und Rafael.
Lucas, der mit seiner Freundin Grace da war, einer schlanken attraktiven Blondine, verhielt sich sehr offen und charmant. Dagegen erinnerte Rafael sie unglaublich an Sebastian, dem er einen harten warnenden Blick zuwarf, als er ihn nach seiner Frau Leila fragte.
„Leider konnte sie mich nicht begleiten“, gab er knapp zur Kenntnis.
Die ganze Zeit über lag Sebastians Arm um ihre Taille. Aneesas Gesicht schmerzte vom ständigen Lächeln. Auf einmal spürte sie, wie sich Sebastian versteifte. Sie folgte seinem Blick und sah einen Mann auf sie zusteuern, in dem sie bereits in der Kirche Jacob vermutet hatte. Er hatte das gleiche nachtschwarze Haar und die dunklen Augen wie Rafael. Und einen ausgesprochen entschlossenen, fast grimmigen Gesichtsausdruck.
Mit jeder Faser ihres Körpers bemerkte Aneesa Sebastians inneren Kampf und flehte stumm, er möge nicht kneifen. Und zunächst sah es auch so aus, als würde ihr Wunsch erhört. Doch kurz bevor Jacob sie erreichte, ließ Sebastian sie abrupt los.
„Ich kann das nicht …“, murmelte er gepresst und stürzte aus dem Raum.
Jacobs dunkle Augen folgten ihm, und Aneesa las tiefe Sorge in ihnen. Spontan legte sie eine Hand auf Jacobs Arm. Langsam wandte er sich ihr zu und zwang sich zu einem Lächeln.
„Ich wusste, es würde für ihn nicht einfach sein nach all der Zeit“, sagte er mehr zu sich selbst, „allerdings hatte ich gehofft …“
Aneesa fühlte sich in diesem Moment schrecklich. „Ich weiß nicht, was zwischen euch beiden vorgefallen ist, aber ich hoffe von ganzem Herzen, dass es sich klären lässt.“ Trotz seines fast einschüchternden Äußeren kam ihr die vertraute Anrede leicht über die Lippen.
Jacobs Lächeln vertiefte sich, erreichte aber nicht seine Augen. „Das hoffe ich auch, obwohl ich weiß, dass es für ihn am härtesten war, als ich damals gegangen bin.“
Offenbar setzte er voraus, dass Sebastian mit ihr über seine belastende Vergangenheit gesprochen hatte, was ja nur zum Teil zutraf. „Ich bin sicher, du hattest deine Gründe“, murmelte sie vage. „Am besten, ich sehe nach Sebastian.“
Jacob drückte kurz ihre Finger, die immer noch auf seinem Arm lagen. „Ich bin froh, dass er dich hat, Aneesa.“
Ihr Lächeln fiel ebenso verkrampft aus wie seines. Ganz sicher war dies nicht der richtige Zeitpunkt, um Jacob über ihre schwierige Beziehung aufzuklären.
An der Rezeption fragte Aneesa nach dem Zimmerschlüssel, der gar nicht existierte, weil ein Privatlift sie direkt nach oben in die Penthouse-Suite brachte. Dort angekommen spürte sie, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte.
Sie fand Sebastian mit dem Rücken zu ihr am Fenster stehend. Seine Haltung war so angespannt, dass es ihr körperlich wehtat.
„Nein, Aneesa, nicht!“, stieß er rau hervor, als er sie näherkommen hörte. „Geh einfach wieder!“
Der dumpfe Schmerz in seiner Stimme ließ ihr keine Wahl. Sie liebte Sebastian, und ihn so leiden zu sehen, brachte sie fast um. Darum ging Aneesa zu ihm, schlang die Arme um seine Hüften und presste ihre Wange gegen seinen harten Rücken.
Zuerst versteifte er sich noch mehr und umfasste ihre Hände, als wolle er sie wegschieben, doch dann umklammerte er ihre Finger so fest, dass Aneesa fast aufgeschrien hätte. Durch seinen kräftigen Körper lief ein Schauer, und dann fühlte sie, wie er weinte – lautlos und ohne Tränen. Es war ein stummes, verzweifeltes Aufbegehren. Aneesa wusste später nicht, wie lange sie so dagestanden hatten, aber irgendwann begann er zu reden, so leise, dass sie ihn kaum verstand.
Sebastian erzählte ihr alles: wie sanft und faszinierend seine Mutter gewesen war, und gleichzeitig so fragil und unerreichbar, dass sie ihm nie Halt und Stütze sein konnte. Und in welchen Abgrund er als Sechsjähriger gestürzt war, als sie ganz aus seinem Leben verschwand. Er sprach von noch mehr schrecklichen Gewalttaten seines despotischen Vaters und der
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