Schenk mir nur diese eine Nacht (German Edition)
den Satz nicht. Das brauchte er auch nicht.
Ofelia war Gerards Ehefrau.
Nein, sie war Gerards Ehefrau gewesen, korrigierte Anny sich selbst. Bis zu ihrem Tode vor vier Jahren. Und nun sollte sie, Anny, den Platz der schönen, bezaubernden und eleganten Ofelia einnehmen.
„Du hast recht“, antwortete sie sanft. „Daran habe ich nicht gedacht.“
„Wir müssen ihn verstehen. Es war ein harter Schlag für ihn.“
„Ja, ich verstehe es.“
Es war ihr klar, dass sie Ofelia aller Wahrscheinlichkeit nach niemals ersetzen können würde. Aber es war ihre Aufgabe, genau das zu versuchen. Und mit ziemlicher Sicherheit war dies auch eine der Ursachen für das ungute Gefühl, das sie in letzter Zeit immer öfter heimsuchte.
„Er will dich um fünf in der Lobby treffen“, fuhr ihr Vater fort. „Ihr werdet ein frühes Abendessen einnehmen und alles Nötige besprechen. Gerard muss noch am Abend nach Paris aufbrechen, weil er am nächsten Tag frühmorgens nach Montreal fliegt. Geschäftstermine.“
Gerard war nicht nur ein Prinz, sondern gleichzeitig auch Inhaber eines multinationalen Konzerns. Genaugenommen mehrerer Konzerne.
„Was möchte er besprechen?“
„Das wird er dir selbst sagen. Aber lasse ihn auf keinen Fall warten“, hatte ihr Vater gemahnt.
„Nein.“
Anny war pünktlich da gewesen. Gerard nicht.
Sie wippte mit ihrem Bein. Nur einmal. Na gut, vielleicht zweimal. Und sie warf erneut einen verstohlenen Blick auf ihre Uhr, während sie in ihrem Kopf unterschwellig die Stimme ihres Vaters vernahm: „Prinzessinnen sind niemals ungeduldig.“
Das mochte wohl sein, aber mittlerweile was es fast Viertel vor sechs. Sie hätte genauso gut länger in der Klinik bleiben und mit Franck das Gespräch über das Für und Wider der Fernsehserien mit Action-Helden beenden können.
Stattdessen hatte sie früher als gewohnt gehen müssen, und Franck hatte ihr vorgeworfen ‚wegzurennen‘.
„Ich ‚renne nicht weg‘!“, hatte Anny eingewandt, „ich habe heute Nachmittag eine Verabredung mit meinem Verlobten.“
„Deinem Verlobten?“ Nachdenklich blickte Franck sie an. „Du heiratest? Wann?“
„In einem Jahr. Oder vielleicht in zwei Jahren. Ich bin nicht sicher.“ Zweifellos in naher Zukunft. Gerard brauchte einen Erben, und er wollte sicherlich nicht ewig warten.
Er hatte akzeptiert, mit der Hochzeit bis nach ihrer Dissertation zu warten. Und wenn alles reibungslos lief, wäre ihre Vermählung demnach irgendwann nächstes Jahr. Also bald.
Zu bald.
Anny versuchte, den quälenden Gedanken zu verdrängen. Es war ja nicht so, dass ihr Vater sie zwang, ein schreckliches Scheusal zu heiraten. Er hatte die Hochzeit zwar arrangiert – aber das bedeutete nicht, dass Gerard nicht der richtige Mann für sie war. Er war eine liebenswerte und aufmerksame Person. Und er war ein Prinz – im wahrsten Sinne des Wortes.
Aber – Anny versuchte ihr Unbehagen abzuschütteln. Sie konnte sich noch gut entsinnen, wie erleichtert sie gewesen war, als Gerard Verständnis für ihre Doktorarbeit gezeigt hatte. Für sie war ihre Forschung sehr wichtig, und er hatte glücklicherweise nichts dagegen einzuwenden gehabt, mit der Hochzeit bis nach der Dissertation zu warten.
Offenbar hatte aber Franck etwas einzuwenden. Seine dunklen Augen waren zu Schlitzen verengt, und er blickte sie düster an. „Ein Jahr? Zwei Jahre? Worauf um alles in der Welt wartest du?“
Diese Frage überrumpelte Anny völlig. Sie starrte Franck verblüfft an. „Was meinst du damit?“
Er machte eine ausladende Handbewegung, eine Geste, die sowohl die vier weißen Wände seines sauberen, aber spartanischen Zimmers als auch seine gelähmten Beine einschloss. Sein Blick wanderte von ihr zu seinen Füßen und schließlich zurück zu ihr.
„Du kannst nie wissen, was auf dich zukommt.“
Es war bei einem Fußballspiel passiert – er und ein anderer Junge waren gleichzeitig zu einem Kopfball aufgestiegen. Der Junge hatte am nächsten Tag etwas Kopfschmerzen, Franck hingegen war von der Hüfte ab gelähmt. Manchmal spürte er noch ein leichtes Kribbeln, aber seine Beine konnte er seit beinahe drei Jahren nicht mehr bewegen.
„Du solltest nicht warten“, beharrte er. Sein Blick durchbohrte Anny förmlich.
Es war eine typische Stellungnahme für Franck. Von oben herab verkündete er sein Urteil, und schon war ein Streit mit Anny vorprogrammiert.
Sie diskutierten über jede Kleinigkeit. Nicht nur über Action-Helden. Von Fußballteams bis hin zu
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