Schenk mir nur eine Nacht
er würde ihr nichts vorwerfen können.
Shontelle durchquerte den Raum und suchte das Gummiband auf dem Boden, das Luis ihr vom Zopf gestreift hatte. Irgendwie war es für sie wichtig, so auszusehen wie immer. Da sie das Gummiband nicht fand, nahm sie schließlich an, er hätte es in die Tasche gesteckt.
Nichts als Niederlagen, dachte sie verzweifelt und ging zum Telefon. Sie rief die Rezeption an und bat, sie um Viertel vor sechs zu wecken. Luis würde durch den Anruf natürlich auch geweckt werden. Aber das konnte ihr nur recht sein, dann wusste er wenigstens, dass sie die ganze Nacht hier ausgehalten hatte.
Nachdem sie erledigt hatte, was zu erledigen war, knipste sie die Lampen aus und durchquerte in dem gedämpften Licht, das durchs Fenster hereinfiel, den Raum, ohne über die Möbel zu stolpern. Dann schob sie die beiden Sessel zusammen. Nachdem sie es sich in dem einen so bequem wie möglich gemacht und die Beine auf den anderen gelegt hatte, schloss sie die Augen.
Sie war so müde und erschöpft, dass sie hoffte, sogleich einzuschlafen.
Doch dann liefen ihr plötzlich vor lauter Verzweiflung die Tränen über die Wangen. Sie versuchte erst gar nicht, sie zurückzuhalten, sondern weinte sich aus. Vielleicht brachte es Erleichterung. Es dauerte jedoch noch lange, bis sie endlich in einen unruhigen Schlaf fiel.
"Shontelle..."
Beim Klang der harten Stimme schreckte Shontelle auf und hob verschlafen den Kopf. Luis stand neben ihr und runzelte die Stirn.
Warum hat er mich geweckt? fragte sie sich müde. Dann nahm sie den dezenten Duft seines Aftershaves wahr, und ihr wurde klar, dass er geduscht und sich rasiert hatte. Und er war korrekt angezogen. Das konnte nur bedeuten, dass sie verschlafen hatte und er sich ärgerte, weil sie immer noch in seiner Suite war.
Rasch stieß sie den einen Sessel mit den Füßen zurück und sprang auf. "Wie viel Uhr ist es?" rief sie entsetzt aus.
Wahrscheinlich wartete Alan schon auf sie und war beunruhigt.
"Du hast Zeit genug", antwortete Luis schroff. "Es ist gleich halb sechs. Ich habe das Frühstück bestellt. Vielleicht willst du duschen, ehe es gebracht wird."
"Frühstück ... für mich?" Sie war verblüfft.
"Für uns beide."
Und dann klopfte der Zimmerkellner auch schon an die Tür.
Während Luis öffnete, überlegte Shontelle, warum er so früh aufgestanden war.
Diese Frage beschäftigte sie auch noch im Badezimmer, wo sie sich für den vor ihr liegenden Tag zurechtmachte, so gut es ging. Sie betrachtete sich im Spiegel und wünschte, Luis wäre im Bett geblieben. Ihre Augen waren gerötet und die Lider geschwollen. Er hat es bestimmt gemerkt, so etwas entgeht ihm nicht, sagte sie sich gereizt und kühlte die Augen mit viel kaltem Wasser. Jetzt wusste er, dass sie geweint hatte.
Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, frühstückte Luis schon.
Er warf ihr einen so prüfenden und durchdringenden Blick zu, dass sie sich unbehaglich fühlte.
"Ich habe dir Kaffee eingeschenkt."
"Danke." Sie wollte nichts mehr von ihm annehmen.
Schmerzerfüllt erinnerte sie sich daran, wie vertraut sie einmal miteinander umgegangen waren.
Er wies auf den anderen Stuhl am Tisch. "Tu nicht so förmlich, Shontelle. Du solltest etwas essen."
"Aber ich bin nicht hungrig", erwiderte sie wahrheitsgemäß.
"Ich hatte nicht ganz so früh aufstehen wollen, sondern veranlasst, um Viertel vor sechs geweckt zu werden."
"Sobald die Sperrstunde beendet ist, muss ich gehen", erklärte er gleichgültig.
"Wohin willst du?" fragte sie beunruhigt. Wollte er etwa verschwinden, damit er sich um den Bus nicht mehr zu kümmern brauchte? "In La Paz ist doch noch alles geschlossen."
Luis zuckte die Schultern. "Es handelt sich um etwas Persönliches."
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Offenbar waren ihm ihre und Alans Sorgen völlig egal. "Und wenn der Bus nicht um sieben bereitgestellt wird? Wo bist du dann zu erreichen?"
"Wer weiß?" antwortete er so desinteressiert, als ginge ihn das alles nichts mehr an.
"So kannst du mich nicht behandeln, Luis", fuhr sie ihn an.
Sie ärgerte sich über seine unglaubliche Arroganz.
Er lächelte ironisch. "Doch, Shontelle, das kann ich. Finde dich damit ab."
Das war unmöglich. Der Schmerz und der Frust, die sie bisher unterdrückt hatte, wurden übermächtig. Ihr Stolz war plötzlich nicht mehr wichtig, zu heftig waren die Emotionen, die auf sie einstürzten.
"Ich habe dich nie so kaltblütig benutzt wie du mich in der vergangenen Nacht! Ich weiß auch
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