Schenk mir nur eine Nacht
Meinung von ihr hatte. Es war immerhin möglich, dass seine Mutter sie belegen hatte.
Wenn sie vor zwei Jahren offen und ehrlich mit ihm über die Behauptungen seiner Mutter gesprochen hätte, wäre zumindest das Durcheinander nicht entstanden. Dass ich jetzt nicht weiß, was er überhaupt empfindet, ist meine Schuld, gestand sie sich ein. Doch selbst wenn er das Schlimmste von ihr annahm, hätte er sie nicht so behandeln dürfen wie letzte Nacht. Das war unverzeihlich.
Deshalb brauchte sie sich nicht mehr mit irgendwelchen Zweifeln herumzuquälen. Für sie und Luis gab es keine gemeinsame Zukunft mehr. Damit musste sie sich abfinden, auch wenn es schmerzlich war.
Doch wenn er den Bus jetzt selbst bringt? überlegte sie angespannt. Nein, das würde auch nichts ändern. Denn sobald er Alan den Bus übergeben hätte, würde er endgültig
verschwinden. Sie würde ihn nie wieder sehen.
Erst als sie die Tür zur Suite hinter sich geschlossen hatte, erinnerte sie sich an Luis' Bemerkung, er würde ihretwegen sein Leben riskieren. Wie hatte er es gemeint? War es wirklich so extrem gefährlich, durch La Paz zu fahren? Dann hätte Alan sich doch sicher nicht entschieden, die Stadt zu verlassen, oder?
Shontelle wusste, dass ihr Bruder unterwegs mit Problemen rechnete. Doch er war zuversichtlich, dass sie es schafften.
Aber Luis' Worte gingen ihr nicht aus dem Kopf. Warum würde ein Mann, der sie zutiefst verachtete, ihretwegen sein Leben aufs Spiel setzen? Er brauchte doch nur mit den Fingern zu schnippen, und schon wären genug Leute da, die alles für ihn erledigten. Irgendwie machte das alles keinen Sinn.
Nachdem sie sich umgezogen hatte, sah sie auch nicht anders aus als zuvor, außer dass sie jetzt ein dunkelgrünes T-Shirt statt des roten anhatte. Rasch bürstete sie das Haar und flocht es zu einem Zopf. Danach fühlte sie sich besser und eher in der Lage, mit dem fertig zu werden, was noch auf sie zukommen würde.
Schließlich nahm sie ihre Reisetaschen und fuhr hinunter ins Foyer, wo sie sie in Alans Obhut ließ. "Ich will noch frühstücken", verkündete sie und eilte in den Speisesaal.
Vielleicht würde sie am Abend mit Alan über alles reden können, doch momentan tat es noch viel zu weh.
Die meisten Reiseteilnehmer kamen ihr schon entgegen. Sie hatte nicht mehr viel Zeit und bediente sich rasch am Frühstücksbüfett. Obwohl sie keinen Appetit hatte, musste sie etwas essen, weil sie einen langen Tag vor sich hatten.
Mit dem Tablett in der Hand setzte sie sich an einen leeren Tisch, denn sie hatte keine Lust, sich mit jemandem zu unterhalten. Glücklicherweise ließ man sie dann auch in Ruhe.
Um zehn vor sieben war sie wieder im Foyer und half Alan, die Leute zu beruhigen und sie seelisch auf die lange Fahrt vorzubereiten. Von La Paz bis nach Santa Cruz würden sie zehn Stunden brauchen, wenn alles wie geplant verlief. Von dort würden sie nach Buenos Aires fliegen, von wo aus es einen Direktflug nach Australien gab.
Die Leute waren nervös und unruhig. Einigen, die an der Höhenkrankheit litten, war es egal, was noch auf sie zukam. Sie wollten nur so rasch wie möglich weg von hier. Andere hatten Angst vor dem, was sie außerhalb des Hotels erwartete.
Sie waren als Australier nicht daran gewöhnt, Militär in den Straßen patrouillieren zu sehen. In ihrer Heimat spielten Soldaten im Alltag keine Rolle, und Panzer konnte man höchstens im Museum betrachten. Mehrere Reiseteilnehmer erklärten, nie mehr in fremde Länder zu reisen. Erst jetzt begriffen sie, wie viel Glück sie hatten, in einem Land wie Australien leben zu können.
Alan forderte alle auf, im Hotel zu bleiben, ehe er hinausging, um die Straße besser beobachten zu können. Unterdessen zauberte Shontelle ein geduldiges Lächeln auf die Lippen, um Zuversicht auszustrahlen, was ihr jedoch ziemlich schwer fiel.
Je mehr Zeit verstrich, desto größer wurde ihre Angst. War Luis etwas zugestoßen?
Obwohl er sie zutiefst verletzt hatte, hätte sie es nicht ertragen, dass ihm etwas passierte. Es wäre schrecklich, wenn er bei dieser Aktion umkommen würde. Aber er hat sich freiwillig dafür entschieden, sein Leben zu riskieren und den Bus selbst zum Hotel zu fahren, überlegte sie. Sie brauchte sich nicht schuldig zu fühlen.
Plötzlich erinnerte sie sich daran, was er ihr über Eduardo, seinen älteren Bruder, erzählt hatte. Während politischer Unruhen in Argentinien hatte ihn die Militärpolizei eines Nachts auf der Straße einfach
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