Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
Vom Netzwerk:
Hand, also musste ich es gekauft haben.
    Ich weiß nicht, wie lange die Fahrt dauerte.
    Queensferry.
    Irgendwie fand ich die Straße, den Wohnblock. Mir ist nicht klar, wie. Es dauerte lange. Ich erinnere mich an den scharfen Wind, daran, dass die Pflastersteine denen im Zentrum von Tuzla glichen, an die unnatürliche Leere der Straße, die mich an Ausgangssperren denken ließ. Ich lief und lief, sah mich um, suchte. Aß das zweite Sandwich. Suchte weiter. Ging in ein Pub. Die Gestalten auf den Barhockern verrenkten sich die Hälse, um mich von oben bis unten zu mustern, dann widmeten sie sich wieder ihren Pints. Ich bestellte Milch. Ich erzählte, wo ich herkam, fragte nach dem Weg. Sie verstanden mich falsch. Einer sagte: »Hab gar nicht gewusst, dass in Boston Krieg ist.«
    Nach einer Weile fand ich den Wohnblock. Ich glich dreimal die Nummer an der Hauswand mit der Adresse ab. Sie stimmte. Ich ging zur Eingangstür, aber es war eine von denen, wo erst jemand auf den Summer drücken muss, damit sie aufgeht. Die Wohnungsnummern auf der Sprechanlage waren abgenutzt. Ich konnte mich nicht überwinden, einen der Knöpfe zu drücken, ich wusste nicht, wie spät es war, und ich wollte niemanden wecken. Ich beschloss, den Rest der Nacht draußen zu verbringen und es am Morgen zu versuchen.
    Wenn du wüsstest, welches der richtige Knopf ist, würdest du ihn drücken?
    Die Frage tauchte einfach so in meinem Kopf auf, als hätte tatsächlich jemand die Worte gesagt. Würde ich? Ich erinnerte mich, dass ich nicht in der Lage gewesen war, noch mal anzurufen. Warum?
    Im Eingang sprang das Licht an, ein junger Mann und eine Frau kamen heraus. Sie beachteten mich nicht und ich fing die Tür auf, bevor sie wieder ins Schloss fiel. Drinnen war es warm, ich stieg die Treppe rauf und fand die Wohnungstür von Allisons Mutter. Ich stand davor und lauschte. Dann klopfte ich.
    In dem Moment wusste ich die Antwort. Es fällt Menschen schwerer, einem nicht zu helfen, wenn man vor ihrer Tür steht, als wenn man draußen vor dem Tor wartet oder aus einer anderen Stadt anruft. Das Berechnende dieses Gedankens verblüffte mich.
    Allisons Mutter öffnete im Bademantel über einem Schlafanzug.
    »Ismet, Lieber!«, sagte sie, während Allison hinter ihr den Kopf reckte.
    »Ismet«, schrie Allison, »was ist passiert?«
    In meinem Kopf schwappte es.
    »Ich bin geflohen«, sagte ich, und sie zogen mich hinein.
    Sie ließen mir ein Bad ein. Gaben mir ein paar alte Klamotten von Allisons Bruder. Kochten mir Spaghetti zum Abendessen, setzten mich an den Esstisch und stellten mir Millionen von Fragen. Ich erzählte ihnen alles: warum ich weglaufen musste, von meinem Onkel in Amerika, über meine Familie, meine Stadt, mein Land, den Krieg, meine Hobbys, meine Lieblingsbücher, meine Lieblingsfilme, meine Lieblingsfarbe. Ich sagte ihnen, dass ich so etwas noch nie gemacht hatte, dass ich keine Ahnung hatte, was ich da tat, aber dass ich es tun musste.
    »Morgen lassen wir uns was einfallen«, sagte Allisons Mutter. »Mach dir keine Sorgen.«
    Sie sah aus wie meine Mutter früher, nur in Blond und als Nichtraucherin, und ich vertraute ihr, dass alles gut werden würde. Sie ging schlafen, und Allison und ich hielten in Allisons Zimmer Händchen, redeten die ganze Nacht, und ich hatte wieder dieses Gefühl, dass alles nicht wirklich sei, so als würde ich Filmaufnahmen von mir sehen.
    Am Morgen, bei den Cornflakes, hatte Allisons Mutter schon alles fertig geplant.
    »Dein Flugticket nach Zagreb wartet für dich am Schalter von Croatia Airlines in Heathrow. Fensterplatz. Am elften.«
    Allison klatschte in die Hände, sprang auf und umarmte sie.
    In meinem Inneren: Pauken und Trompeten, Konfetti, Siegerfäuste, jubelnde Kinderstimmen.
    Das Telefon klingelte, und Allisons Mutter ging dran.
    »Wie bitte?«, hörte ich ihre Mutter sagen, dann: »Ich verstehe Sie nicht.«
    Allisons Mutter machte mir Zeichen mit dem Telefon, die Augen weit aufgerissen.
    »Ist vielleicht für dich. Ist kein Englisch.«
    Mutter?
    Sie drückte mir den Hörer in die Hand, der durch ein gewundenes Kabel mit der Wand verbunden war und ich spürte sein ganzes Gewicht und auch das Gewicht desjenigen am anderen Ende der Leitung, wer auch immer es sein mochte. Mein Bizeps spannte sich an, um den Hörer an mein Ohr zu heben.
    »Hallo«, sagte ich auf Bosnisch.
    »Was ist los, Mann. Hier ist Omar.«
    »Omar?«
    Wo hast du die Nummer her?
    »Hör zu, Mann, wir sind noch nicht

Weitere Kostenlose Bücher