Scherben
steckte ihn wieder in die Tasche, vergewisserte mich dreimal, dass der Knopf geschlossen war, presste die Handfläche darauf und spürte mein Herz durch den Pass pochen.
Wasmachstdu
Meine Füße waren kalt. Die einst weißen Socken waren jetzt braun und durchscheinend. Ich schälte sie von den Füßen und ließ sie fallen. Sie sahen aus wie zwei schmutzige, matschige Schneebälle, die auf dem Boden des Busses schmolzen. Die Haut an meinen Füßen war fremd und schrumpelig. Ich suchte meine Schuhe. Das Hinterteil des rechten gähnte mich an, aber sie waren relativ trocken, und ich zog sie mir über die nackten Füße.
Ich sah ein paar Häuser. Ich sah ein paar Autos, ihre Scheibenwischer richteten sich auf, legten sich ab. Ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte.
An einem größeren Busbahnhof stieg ich aus. Der Wind, der dort blies, ließ mich jeden Knochen im Körper spüren.
Im Bahnhof war es wärmer, aber ich konnte nicht aufhören zu zittern. Ich wanderte herum auf der Suche nach einer Nische, einer abgeschiedenen Ecke, in der ich mich verstecken und mich sammeln und überlegen konnte, was ich tun sollte. Ich fand Zuflucht in einer Toilettenkabine.
Ich setzte mich auf den geschlossenen Deckel, den Kopf in den Händen, während um mich herum Männer pissten und kackten, furzten und stöhnten, sich die Hände wuschen oder auch nicht. Ich vergewisserte mich noch einmal, dass mein Pass noch da war, zählte mein ganzes Geld (das deutsche und das britische), zog mein Adressbuch aus der Tasche und las die Namen und Telefonnummern meiner Freunde und Familienangehörigen in Tuzla, die mir alle nicht helfen konnten. Ich las die Nummer meiner Eltern, und obwohl ich sie auswendig wusste, wirkte sie nicht mehr vertraut, weil es nicht mehr meine war. Die Nummer meines Onkels in Amerika schien zu lang und obskur, ein Computercode. Asjas Nummer war traurig, ein ungelesener Liebesbrief, der erst dreißig Jahre später gefunden wird.
Ein Teil von mir spielte mit dem Gedanken, zum Theater zurückzugehen, die anderen zu suchen und mit ihnen nach Hause zu fahren. Das ist nichts für dich. Du schaffst das nicht alleine.
Ein anderer Teil von mir war euphorisch und lebendig und dachte an nichts anderes als an Allison. Im Museum hatte sie gesagt, sie wolle nicht, dass ich wieder nach Bosnien fuhr, und ich hatte gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen, und ihr von meinen Plänen erzählt. Sie sagte, wenn aus Amerika nichts würde, könnte ich bei ihr wohnen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich das für eine rein romantische und nicht sehr wahrscheinliche Idee gehalten, aber jetzt war es das Einzige, was mir einfiel. Wieder und wieder las ich ihre Adresse und ihre Telefonnummern (eine bei ihrem Dad, die andere bei ihrer Mom) und versuchte sie mir einzuprägen.
Ich kaufte ein dreieckiges, in Plastik eingepacktes Sandwich mit Käse und Tomaten, meine erste Mahlzeit des Tages, und verschlang es mit vier Bissen. Es schmeckte so gut. Ich kaufte noch eins für später.
Nachdem ich ein wenig Mut gesammelt und mich aufgewärmt hatte, rief ich Allisons Dad von einem Münztelefon aus an, aber er sagte, sie sei bei ihrer Mum. Ich rief ihre Mum an und fragte sie mit trommelndem Herzen, ob Allison zu Hause sei.
»Wer ist da?«
»Ismet. Aus Bosnien. Wir haben uns bei dem Stück kennengelernt.«
»Natürlich, wie nett. Allison ist noch in der Schule, fürchte ich.«
»Ach so«, sagte ich. Plötzlich hatte ich einen Kloß im Hals.
»Ich rechne nicht vor sechs oder sieben mit ihr.«
»Oh«, war alles, was ich herausbrachte, während mir heiße Tränen aus den Augen kullerten.
»Ismet, geht es dir gut? Was ist los?«
»Alles okay«, sagte ich mit einer Stimme, die eine Oktave zu tief war.
»Ganz sicher?«
»Ich ruf später noch mal an.«
»Na gut. Ich sag Allison, dass du angerufen hast.«
»Danke. Bye bye.«
»Cheerio.«
Ich konnte nicht noch einmal anrufen. Ich stand in der Telefonzelle mit dem Hörer in der rechten Hand und der Nummer im Kopf. Meine linke Hand wäre problemlos in der Lage gewesen, die Tasten in der richtigen Reihenfolge zu drücken, mein Mund hätte es vermocht, zwar mit starkem Akzent, aber doch verständlich Guten Abend, ist Allison zu Hause zu sagen, aber ich konnte nicht noch einmal anrufen.
Stattdessen kaufte ich ein Busticket nach South Queensferry, wo Allisons Mutter wohnte, oder besser gesagt, ich sah mir dabei zu, wie ich eines kaufte. Ich sah mir dabei zu, wie ich es kaufte, und dann hatte ich es in der
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