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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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sie mit einem Satz, zog die Schuhe aus und ließ sie da auf der Fußmatte stehen. Die beiden mit ihren Schirmen standen noch auf dem Bürgersteig.
    »Wenn ihr wollt, könnt ihr hier warten«, sagte ich. »Ich hole ihn.« Aber Branka kam schon mit misstrauischer Miene die Stufen runter.
    Die Haustür war nicht abgeschlossen, und ich rannte rein. Ich raste den Flur entlang und hätte fast das Gleichgewicht verloren, weil meine rechte Socke durchnässt war und ich auf dem lackierten Holzboden rutschte. Aber es gab Wände zum Ausbalancieren, und ich schaffte es bis zu meinem Zimmer, schlüpfte hinein und schlug die Tür zu. Dann schloss ich von innen ab.
    Einen Augenblick lang war ich in Panik. Ich nahm meine Tasche, stellte sie wieder ab. Rannte ans Fenster, sah raus, wirbelte herum, rannte zur Tür. Ich raufte mir die Haare, ließ wieder davon ab. Hörte Schritte. Dann war es kurz ruhig.
    Klopfen an der Tür.
    Ich zog meine Windjacke über meine Jeansjacke und kletterte aufs Fensterbrett.
    »Ich zieh mich um«, rief ich, »ich bin ganz nass.«
    Nur mit Socken an den Füßen sprang ich in den Hof.
    Ich machte mir die Hände und die Knie schmutzig, kam auf die Füße, duckte mich unter ein paar Kissenbezügen durch, die triefend nass an der Wäscheleine hingen, und rannte zur Tür, die ins Haus führte. Ich packte den Türgriff, zog und zog, und wieder war da Panik, weil sie nicht nachgab. Ich zog und zog und sah mich um, schätzte die Höhe der Mauern ab, dann drückte ich, anstatt zu ziehen, die Tür klickte auf, und ich rannte durch das Haus nach vorne, streckte den Kopf raus und sah, dass niemand mehr vor der Haustür stand, angelte meine Schuhe in einer fließenden Bewegung von der Fußmatte und sprang die Stufen rauf zur Straße.
    Und rannte weiter.
    Und weiter.
    Und meine Schritte federten und mein Herz jubilierte, trotz des strömenden Regens und trotz der nassen Socken, trotz Asmirs Verrat und Vaters Versagen, trotz der Menschen, die in der Hölle zurückblieben, trotz der ungewissenZukunft und des Sogs der Vergangenheit und der Zerrissenheit der Gegenwart. Trotz Angst. Trotz Liebe.
    Ich rannte über die Straße mit einem Schuh in jeder Hand. Ein Doppeldeckerbus wie von einer britischen Postkarte bremste ab und blieb stehen. Ich stieg ein und reichte dem Fahrer ein paar verkrumpelte Scheine. Ich stieg die Stufen hinauf aufs obere Deck, das leer war, ging bis ganz nach hinten und warf mich mit bäuchlings auf den Boden.
    Der Bus fuhr an. Eine ganze Weile lag ich so da, dann drehte ich mich auf den Rücken. Ließ die Schuhe über meinem Kopf fallen. Meine Brust hob und senkte sich. Ich lächelte. Meine rechte Hand klammerte sich an der linken vorderen Tasche meiner Jacke fest und ertastete das Dokument darin. Mit der linken Hand griff ich in meine rechte Innentasche und drückte meinen Geldbeutel. Dann verlor ich das Bewusstsein.
    Als ich aufwachte, hörte ich Blattwerk über das Dach des Busses kratzen, und kaum hatte ich begriffen, wo ich war, wummerte mein Herz.
    WasmachstduWasmachstduWasmachstduWasmachstduWasmachstduWasmachst
    Ich hob den Kopf, sah den Gang hinunter und fühlte erneut eine Ohnmacht kommen. Mit geschlossenen Augen lehnte ich mich an die Seite des Sitzes zu meiner Rechten, zog meine Beine an den Oberkörper und schaffte es, mich auf den Sitz zu hieven.
    duWasmachstduWas
    Ganz langsam lichtete sich meine private Dunkelheit, und ich war in der Lage, mich umzusehen. Ausschnitte von Edinburgh schoben sich, unscharf vom Regen, in den Rahmen des Fensters, einer nach dem anderen. Ich erkannte nichts. Das war der Preis der Freiheit.
    machstduWasmachstdu
    Ich halluzinierte, ich sei jemand anderes, älteres, jemand, dem das Innere dieses Busses nicht fremd war, der wusste, wo er sich befand, wohin der Bus fuhr und wie viele Haltestellen es bis dorthin noch waren. Das fühlte sich gleichzeitig gut und nervenaufreibend an, gut, weil es beruhigend auf meinen Körper wirkte, nervenaufreibend, weil ich wusste, dass dieser andere nicht ich war. Wieder geriet ich in Panik und fingerte meinen Pass aus der Jackentasche. Ich schlug ihn auf und betrachtete das Foto. Wer war dieser blasse Junge? Warum war der Halsausschnitt seines T-Shirts so ausgeleiert?
    Ich las den Namen. Ismet Prcić. Ich las den Namen, dann betrachtete ich das Bild, betrachtete das Bild, las den Namen, bis ich beides erkannte, meine Gesichtszüge und meine geschwungene Unterschrift. Ich hielt den Pass mit beiden Händen fest, klappte ihn zu und

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