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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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einer Portion Bösartigkeit.
    »Sie erzählen mir Geschichten ohne jeden Beweis. Alles, was Sie haben, ist ein Pass und ein abgelaufenes Visum. Mehr weiß ich nicht über Sie.«
    »Aber ich habe alle anderen Papiere zu Hause. Sie können doch nicht erwarten, dass ich sie ständig dabei habe.«
    »Doch, das kann ich.«
    Ich fing an zu schluchzen. Er ließ einfach nur ein Bein baumeln und spielte mit meinem Pass. Junior neben ihm wich meinem Blick aus und tat, als würde er etwas in der Schublade suchen.
    »Tut mir leid«, sagte ich und fasste mich wieder.
    Der Polizist zuckte mit den Schultern.
    »Ich fürchte, Entschuldigungen machen dieses Visum auch nicht mehr gültig. Wir schreiben den Bericht fertig, dann bringe ich Sie ins Präsidium. Dort können Sie Ihren Fall ja schildern, wobei ich Ihnen gleich sage, dass ein abgelaufenes Visum als unentschuldbar angesehen wird. Also gut, wo waren wir? Wann sind Sie nach Kroatien eingereist und wie?«
    »Mit dem Flugzeug am … ich glaube, das war der 11. September. Da ist irgendwo ein Stempel drin.«
    Zum ersten Mal blätterte er meinen Pass ganz durch. »Wenn Sie wirklich nach Amerika fliegen wollten, müssten Sie ja ein Flugticket und ein Visum haben, das Ihnen erlaubt –«
    Er stieß auf etwas in meinem Pass und brach den Satz ab. Seine Stirn legte sich in Falten, als er sich den Pass dichter vor die Augen hielt. Schließlich blickte er mich angewidert an.
    »Was ist das?«
    Er schob mir den Pass aufgeschlagen vors Gesicht.
    »Äh, mein Visum für Großbritannien.«
    »Aber Sie haben doch gesagt, Sie fliegen nach Amerika.«
    »Ja, das ist mein endgültiges Ziel. Aber zuerst muss ich hier als Flüchtling anerkannt werden, dann kann ich zurück nach England fliegen und von dort aus in die Vereinigten Staaten. Mein Onkel hat mir ein Ticket von London nach Los Angeles gekauft.«
    »Moment mal. Zurück nach England?« Der Polizist war verdattert.
    »Ja. Da war ich, bevor ich hierherkam.«
    »Warum sind Sie denn hergekommen, wenn Sie schon dort waren?«
    »Um als Flüchtling anerkannt zu werden, damit ich emigrieren kann.«
    »Nach Amerika?«
    »Ja.«
    Der Polizist rieb sich die Augen, und das Donaudelta seiner Adern an der Schläfe schwoll an und färbte alle gewundenen Seitenarme bis auf die glänzende Kuppel seines verwirrten Kopfes hinauf dunkellila. Anschließend begutachtete er mein Visum im Gegenlicht und entdeckte das verborgene Profil von Königin Elizabeth, das für die Echtheit des Dokuments bürgte.
    »Wann läuft das ab?«, fragte er und reichte Junior meinen Pass.
    »Im Februar, da steht es«, sagte ich ein bisschen übereifrig.
    »Sie habe ich nicht gefragt«, zischte der Polizist.
    Junior sah sich das Visum an.
    »Er hat recht«, sagte er. Seine Stimme war hoch und schrill wie die eines Papageis. »Ich frage mich nur wegen des Stempels. Das Visum ist schon abgestempelt.«
    »Das wird jedes Mal abgestempelt, wenn man ein- oder ausreist«, erklärte ich.
    »Das stimmt«, bestätigte Junior.
    »Was heißt das?« Der Polizist zeigte Junior etwas in meinem Pass.
    »Keine Ahnung. Ich hatte Russisch in der Schule.«
    »Ich kann Englisch«, sagte ich.
    Der Polizist kam zu mir und zeigte auf die schwarze Zeile, die in die obere Ecke des Visums gestempelt worden war.
    » Single Entry« , las ich vor. »Das bedeutet so viel wie freier Zugang oder Einreise. Eine ziemlich geläufige Formulierung.«
    Der Polizist suchte mein Gesicht mit seinen Lügendetektoraugen ab, hielt Ausschau nach verräterischen Anzeichen. Aber ich ließ es ehrlich aussehen, menschlich wirken.
    »Warum haben Sie uns nicht gesagt, dass Sie ein Visum für England besitzen?«, unterbrach der Polizist plötzlich die Stille, bestürzt und angewidert über so viel Dummheit und Rücksichtslosigkeit im Umgang mit seiner kostbaren Zeit. Von einem böswilligen Richter, Geschworenen und Henker in einer Person verwandelte er sich jetzt in einen Oberschuldirektor, der die schlechte Leistung eines ansonsten fähigen Schülers hinterfragt.
    Er gab Junior ein Zeichen, der das Blatt aus der Schreibmaschine zog, zusammenknüllte und irgendwo hinwarf, vermutlich in einen Papierkorb.
    »Ich weiß nicht«, wimmerte ich. Der Polizist schob mir den Pass zu.
    »Dieses Mal lasse ich Sie gehen, aber wenn ich Sie noch mal sehe …«
    »Werden Sie nicht.«
    Auf dem Nachhauseweg bestand die Welt ausschließlich aus Beton und scharfen Kanten. Nichts war weich oder verformbar, nur harte Materie. Es war unmöglich, eine Spur zu

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