Scherben
dann plötzlich zog es ein Augenlid herunter und legte die scheußlich rote Unterseite eines Augapfels frei. Den Mund weit geöffnet, neigte es den Kopf zur Seite und beugte sich vor, wie zum Kuss, nur dass es sich eher anfühlte, als wollte es mich beißen und mir ein Stück aus der Wange reißen. Es hielt nur Zentimeter vor meinem Mund inne, lächelte und atmete mich wie ein Filmbösewicht an, der dem Helden Rauch ins Gesicht bläst, während dieser gefesselt und geknebelt auf einem Stuhl sitzt. Seine Ausdünstungen rochen, als wäre etwas in seinem Mund gestorben, und ließen die uns trennende Scheidewand ein paar ausgedehnte Augenblicke lang deutlicher hervortreten, und ich fühlte mich ein bisschen sicherer. Ich zeichnete eine Faust mit ausgestrecktem Mittelfinger in die zweidimensionale, flüchtige Wolke zwischen unseren Gesichtern, griff nach meiner hinfälligen Zahnbürste und sah ihm dabei zu, wie er sich kräftig die Zähne putzte.
»Setz dich«, befahl Mina in der Küche, kaum dass sie mich die Badezimmertür schließen gehört hatte. Ana saß bereits mit der Gabel in der Hand am Esstisch. Minas Messer kratzte über den Pfannenboden, während sie den Auflauf portionierte. Ana klaute eine Gurkenscheibe aus der Salatschüssel und steckte sie sich in den Mund, als würde sie es heimlich machen.
Es klingelte an der Tür.
Ich sah Ana erschrocken an. Polizei , schrie etwas in meinem Kopf. Ich fragte mich, ob ich einen Sprung aus dem Fenster überleben würde, sechs Stockwerke tief.
»Geht einer von euch nachsehen?«, schrie Mina aus der Küche. Sie hielt eine rußschwarze Pfanne mit Hilfe von zwei nicht zueinander passenden Ofenhandschuhen. »Ich hab die Hände voll.«
Der Geruch des kajmak , der auf den goldbraunen Quadraten aus gebackenem Teig schmolz, flutete meinen Kopf mitden Bildern der Sommervormittage meiner Kindheit: Schaffelle auf den sonnigen Flecken im Hof; Bienen, die an gelben Blüten summen; das Rauschen der Bäume im Wind; Großvater, der sich über seinem Magengeschwür krümmt und raucht, das Knie unter dem Kinn; der salzige Geschmack von Omas cremiger Salatsauce, rosa meliert von blutenden Tomaten. Blauer Himmel über allem, als hätte er seine Tore weit geöffnet, und die launische Zeit, die mal tröpfelte, mal dahinraste …
Ich öffnete die Wohnungstür und starrte wie hypnotisiert auf zwei Männer in Zivilkleidung, als wären sie nackte, zahnlose Beduinen.
»Günter?«, sagte einer von ihnen. Ich schüttelte den Kopf.
»Günter?«, versuchte es der andere.
»Hier gibt’s keinen Günter«, brachte ich hervor.
Die Männer sahen einander an, offensichtlich am Boden zerstört.
» Nein ?«, fragte der erste auf Deutsch.
» Nein ?«, wiederholte sein Freund.
»Nein«, sagte ich und zeigte hinter mich, »kein Günter.«
Sie verrenkten ihre Hälse und versuchten hinter mich zu blicken, dann traten sie langsam den Rückzug an, bedeuteten mir mit Gesten, dass sie verstanden hätten und dass es ihnen leid tue. Ich machte die Tür zu und schloss ab.
»Wer war das?«, fragte Ana.
»Irgendwelche Deutsche … glaube ich.«
»Wer war das?«, rief Mina aus der Küche.
»Irgendwelche Deutsche«, schrie Ana zurück.
Dann unterhielten wir uns ganz ausgezeichnet über Essen, die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen der kroatischen und der bosnischen Küche, über Osijek, wo Ana aufgewachsen war, und Tuzla, wo Mina und ich herkamen. Mina holte ein paar alte Fotos und erzählte zu jedem einzelnen etwas. Ich staunte über ihre plötzlich spürbare Zärtlichkeit und den rührenden Stolz, mit dem sie uns verschiedene Angehörige ihrer großen Familie präsentierte und die Schwarz-Weiß-Bilder mit Geschichten von Verschrobenheiten, harter Arbeit und Triumphen ausmalte. Es war, als wären die zerfurchte Stirn und die schroffe Art, ihre Maske und ihr Schild, plötzlich transparent geworden und hätten eine außergewöhnlich gutmütige, wahrheitsliebende und bodenständige Person zum Vorschein gebracht. Ich hätte sie umarmen können.
Später am Nachmittag beschloss ich, trotz meiner Angst und Unsicherheit rauszugehen. Ein bisschen kam ich mir vor wie ein Tier im Käfig, und plötzlich hielt ich es nicht mehr länger aus. Normalerweise gab ich Mina meine Briefe nach Hause mit, weil sie einen verlässlichen Kanal kannte, auf dem sie ohne viel Aufhebens über die UN-Konvois nach Bosnien gelangten, aber dieses Mal wollte ich meinen Brief selbst zum Busbahnhof bringen und mir bei der Gelegenheit
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