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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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hinterlassen, geschweige denn, in der Straße zu versinken.
    Ich ging, tat so, als wäre alles in Ordnung, setzte einen Fuß vor den anderen, als sei ich ein furchtloser Weltbürger, bis sich der Turm des Busbahnhofs nicht mehr in Sichtweite befand und ich wusste, dass mich der Polizist nicht mehr sehen konnte. Dann rannte ich los, rannte den ganzen Weg zurück zu Minas Haus, machte nur einmal kurz Halt, um ein bisschen Geld zu wechseln und einen Riesenvorrat an Konserven und Luftpostumschlägen zu kaufen. Ich würde nie wieder die Wohnung verlassen, nur zum Gespräch beim INS und bei meiner Abreise ins sonnige Kalifornien mit seinen glitzernden Pools und den Frauen mit den falschen Brüsten – Träume im Einmachglas, mit Etikett und Strichcode und allem.

    Aus Ismet Prcićs Tagebuch
    27. Oktober 1995

    Keine Chance.
    Amerika, College, das war’s.
    Der Beamte beim INS war ein scheiß Roboter in einer Hülle aus Menschenmasse. Nicht der geringste Humor in seinen Augen. In seinem Gehirn steckte die Festplatte eines Commodore 64, und seine Gedanken waren in BASIC programmiert ( IF 1, 2 AND 4 GO TO 10 – und 10 bedeutet KEINE EINREISE ). Also darauf, mich nicht als Mensch wahrzunehmen.
    Für ihn lief alles auf eine einfache Frage hinaus: »Können Sie irgendwohin zurück?« Ich wollte nicht lügen. Ich sagte ja. ( IF »YES« GO TO 10 ). Das Gespräch war beendet.
    Ich dachte daran, einfach wieder nach Hause zu fahren, aber Mina hielt mich davon ab. Und Neda erzählte mir, es gäbe noch eine andere Agentur, die IRC, über die ich versuchen könne, in die Vereinigten Staaten einzureisen, also ging ich dorthin und reichte meine Papiere ein. Man sagte mir, ich solle ungefähr einen Monat warten, dann käme der nächste INS-Beamte vorbei.

    9. November 1995

    Habe offiziell jedes Buch in der Wohnung gelesen, einschließlich des Gesamtwerks von Erich Fromm.Um drei am Nachmittag dachte ich, ich hätte einen Herzinfarkt, doch das Herzklopfen ließ nach ungefähr zehn Minuten wieder nach. Ana meinte, das sei eine Panikattacke gewesen, und gab mir eine halbe Valium. Ich versuchte, Zeitung zu lesen, aber das war grauenhaft. Ein Königreich für ein Buch. Ich weiß nicht, was ich mit mir machen soll.

    15. November 1995

    Mina ist früh ins Bett gegangen und Ana hat eine Flasche Roten geholt und mir was davon angeboten, aber aus irgendeinem Grund habe ich behauptet, ich würde nicht trinken. Irgendwann war sie beschwipst und gut drauf, und wir haben bis in die Nacht über Filme geredet. Sie fragte mich, ob ich Pulp Fiction gesehen hätte, den »besten Film der Welt«, und ich sagte nein. Erst stieß sie einen spitzen Schrei aus, dann erzählte sie mir die komplette verschachtelte Handlung, zitierte ganze Dialoge auf Englisch, ahmte Gesten, Grimassen und Stimmen nach. Nach ungefähr drei Sätzen merkte ich, dass ich den Film doch schon gesehen und nur den Titel nicht mitbekommen hatte, aber da war es schon zu spät. Sie erzählte und erzählte, und ich brachte es nicht übers Herz, sie zu enttäuschen. Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube nicht, dass ich das Ganze über mich hätte ergehen lassen, wenn sie keinen Krebs gehabt hätte. Ist das schlimm?
    Ungefähr um elf fingen ihre Medikamente langsam an, mit dem Wein zu tanzen, und innerhalb einer halben Stunde verengten sich ihre Augen zu Schlitzen. Sie dankte mir dafür, dass ich ihr Gesellschaft geleistet hatte, und zog sich zurück.

    20. November 1995

    Gut gefühlt heute, optimistisch, als könnte aus der Sache mit Amerika doch noch was werden. Zwang mich zum ersten Mal seit langer langer Zeit, das Haus zu verlassen, spazierte durch Zagreb, trank einen Kaffee auf dem Ban-Jelačić-Platz, ging zur amerikanischen Botschaft, um dort die Bibliothek zu benutzen, lieh zwei Bücher über Avantgarde-Theater aus und las ein bisschen auf einer Parkbank. Sah zu, wie die Blätter zu Boden glitten und die Hundebesitzer den Stuhlgang ihrer Haustiere überwachten.
    Beschloss, ins Kino zu gehen. Braveheart . Fing schon beim ersten Bild an zu heulen. Die Kamera überfliegt die Highlands, und dann setzen die Dudelsäcke ein. Das hat mich fertiggemacht. Vom schottischen Akzent wird mir ganz anders. Die Liebesgeschichte ließ mich um Allison weinen. Der Freiheitskampf berauschte mich dermaßen, dass ich mich unbesiegbar fühlte. Hätten mich beim Verlassen des Kinos ein paar Polizisten deportieren wollen, hätte ich sie niedergemäht wie Mel Gibson eine Wagenladung nasser Pappkameraden. Ich ging

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