Scherben
die Beine vertreten.
Teile von Kroatien und der größte Teil von Bosnien waren besetzt; es gab keinerlei konventionellen Postverkehr zwischen den Ländern. Wenn man etwas nach Hause schicken wollte, musste man es einer vertrauenswürdigen Person übergeben, die mit dem Bus dorthin fuhr, oder einen der wagemutigen Fahrer schmieren und hoffen, er würde ehrlich genug sein, die Sendung abzuliefern. Die Fahrt hatte in Friedenszeiten höchstens drei bis vier Stunden gedauert, jetzt nahm sie ganze Tage in Anspruch, weil die Busse die umkämpften Gebiete umfahren und unzählige Kontrollpunkte passieren mussten, an denen man immer Gefahr lief, dass man von einer militärischen oder paramilitärischen Gruppe aus einer Laune heraus aus dem Bus gezogen wurde und eine Kugel in den glücklosen Kopf gejagt bekam.
Ich versiegelte einen Brief an meine Mutter und überlegte,wohin es ihn wohl verschlagen würde, als Ana aus dem Badezimmer kam und ihren verbundenen Arm wie ein Baby an sich drückte, das Gesicht schmerzverzerrt. Sie ging an mir vorbei, als sei ich eine verhasste Lampe oder so was und schloss sich in ihrem Zimmer ein, wo sie anfing zu stöhnen, eine elende Löwin in einem Zoo. Ihr Stöhnen hatte etwas gleichermaßen Wütendes wie Verzweifeltes. »Scheiß Arm«, hörte ich sie sagen. »Dieser scheiß Arm.« Mina machte die Tür zum Wohnzimmer zu, was bedeutete: Komm nicht rein. Ein Mann und eine Frau schrien einander in irgendeiner Sprache im Fernseher an.
»Dieser scheiß Arm«, heulte Ana.
Es war, als hätte das magische Frühstück nie stattgefunden.
Ich ging raus. Es gehörte nicht zu meinen Angewohnheiten, das Schicksal herauszufordern, deshalb verließ ich die Wohnung nur, wenn es unbedingt sein musste. Ich hatte nicht das Gefühl, zu der Welt dort draußen zu gehören. Meine mittlerweile anderthalb Monate währende Quasi-Inhaftierung hatte mein Universum schrumpfen lassen und die Außenwelt bedeutungslos gemacht. Ich halluzinierte, ich würde aus dem Haus treten, knöcheltief in einer teigigen Straße versinken und müsste mich mit aller Anstrengung weiterbewegen, um nicht von ihr verschlungen zu werden.
Trotz meiner Bemühungen hielt der Zustand des Nicht-in-die-Welt-Gehörens an, bis ich den Polizisten sah. Ich war schon früh am Bahnhof, schlenderte draußen vor dem Busparkplatz herum, zählte Schritte, ging zwischen einer Bank und dem Drahtzaun auf und ab, hiner dem drei Busse mit bosnischen Aufklebern und Tuzlaer Nummernschildern parkten. Mein Plan war, den Fahrer beim Eintreffen abzupassen und ihm meinen Brief zusammen mit zehn oder zwanzig deutschen Mark zu geben, je nachdem, in welcher Stimmung er war. Ich sah zur großen Uhr oben am Turm des Busbahnhofs, als ich den uniformierten Polizisten bemerkte, der mich in den Blick genommen hatte und ohne Eile auf mich zukam.
Die Straße schob sich hart gegen meine Fußsohlen. Im Boden versinken war unmöglich.
Scheiße. Was jetzt?
Während ich nachdachte, übernahm etwas anderes die Kontrolle über meinen Körper. Ich sah mich lächelnd auf den Polizisten zugehen. Er geriet aus dem Tritt, wurde unsicher, mein Verhalten überraschte ihn.
»Guten Tag«, hörte ich mich rufen. Ich zog meinen Reisepass aus der Tasche, noch bevor er Zeit hatte, etwas zu sagen.
»Guten Tag«, murmelte er, sichtlich verärgert darüber, dass er nicht, wie erhofft, das Überraschungsmoment auf seiner Seite hatte. Die Kappe hatte er so tief ins Gesicht gezogen, dass sie seine Augenbrauen verdeckte und der flache Teil oben sich seltsam auswölbte. »Kann ich bitte Ihre Papiere sehen?«
Als er das Wort »Papiere« aussprach, hatte er den Pass schon in der Hand. Beim Anblick des bosnischen Emblems auf dem Umschlag grinste er abfällig.
»Haben Sie ein Visum?«, fragte er und blätterte den Pass durch, der sich auf der Seite öffnete, nach der er suchte. Seine Lippen wurden schmaler, als er das Dokument las, dann kehrte das abfällige Grinsen zurück.
»Das ist längst abgelaufen«, sagte er und klappte den Pass mit einer Bewegung zu, die etwas Endgültiges hatte.
»Ich bin nur auf der Durchreise«, sagte ich, »ich warte auf meine Papiere, um nach Amerika auszureisen und aufs College zu gehen.«
»Haben Sie Dokumente, die das belegen?«
»Nein, nicht dabei, nein.«
»Tut mir leid, aber Sie haben keine Papiere, die es Ihnen erlauben, sich in Kroatien aufzuhalten, oder die Ihre Geschichte untermauern. Ich muss Sie bitten, mitzukommen.«
Er berührte mich leicht am Ellbogen,
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