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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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zurück zur Wohnung wie ein General auf Eroberungsfeldzug, mit herausgestreckter Brust und loderndem Blick – einer, mit dem man sich besser nicht anlegte.
    Jetzt kann ich nicht einschlafen.

    25. November 1995

    Noch kein Anruf vom IRC.
    Ana weint in ihrem Zimmer. Ich kann sie durch zwei Türen hören.

    7. Dezember 1995

    Das IRC hat angerufen! D-Day tomorrow, noon.
    Es hat den ganzen Vormittag geregnet und geschneit, und der kaputte Schuh war dem salzigen Matsch nicht gewachsen, der auf den Straßen der Stadt klebte wie ein Überzug aus Schmutz. Mein nasser rechter Fuß parkte an einem lauwarmen Heizkörper, der sich über die gesamte Länge der Wand rechts unter dem Fenster im Wartezimmer des IRC in Zagreb zog.
    Draußen auf dem Fensterbrett ertrug eine alte Taube ihr Leben mit weisem Fatalismus; sie stand auf ihrem einzigen Bein, war sich des dramatischen Zustands ihres Federkleids nicht bewusst und blinzelte in den Wind. Noch weiter draußen auf den Gehwegen humpelten die Bürger mit pompösen Winterkopfbedeckungen unter dem Gewicht ihrer exkommunistischen Mäntel und blickten auf ihre Schuhe, um ihre hilflosen Hälse vor der Kälte zu verstecken. Etwas sauste schräg am Fenster vorbei, eine Seite aus einer Zeitung, misshandelt von einem besonders erbitterten Windstoß, und die Taube hüpfte einmal nach links und zog den Kopf ein, als wollte sie dieses grobe Agitproptheater-Intermezzo in Augenschein nehmen, dann machte sie es sich wieder in ihrer einbeinigen Meditation bequem.
    In dem großen Wartezimmer warteteten die Menschen in Schlangen, die man ihnen zugewiesen hatte, hielten Papiere in den Händen, deren Vorlage verlangt wurde, sahen mit ängstlichen Gesichtern auf Armbanduhren und Wanduhren und waren auf alles gefasst. Angestellte lächelten unermüdlich und sprachen mit gedämpften Bibliotheksstimmen. Jeder Neuankömmling von draußen trat sich mechanisch die Füße auf der Matte ab, um den Matsch loszuwerden, undklappte den Schirm mit den gleichen Bewegungen zusammen.
    Niemand drinnen oder draußen (nicht einmal die Angestellten) wussten, dass die INS-Beamtin meinen Antrag auf Einwanderung in die Vereinigten Staaten genehmigt hatte. Ich saß auf der Kante einer Bank inmitten anderer Antragsteller, die ihre Hände kneteten, ihre Fingerknöchel knacken ließen, auf den Wangen kauten, im Raum auf und ab gingen und auf die offiziellen Ergebnisse nach den Gesprächen am Vormittag und Nachmittag warteten. Auch ich tappte nervös mit meinem kalten Fuß an die Heizung und untersuchte immer wieder meine Nägel, aber nur aus Solidarität. Ich wusste schon, dass ich reindurfte. Ich hatte mir die Hand darauf geben lassen. Die Beamtin hatte gesagt: »Willkommen in Amerika«, war hinter ihrem Schreibtisch aufgestanden und hatte mir die Hand gereicht. Anders als ihr dicker, roboterhafter Vorgänger hatte sie sanfte graue Augen, die Augen eines Menschen, und eine weiche Hand. Ihre letzte und wichtigste Frage war: »Warum wollen Sie in den Vereinigten Staaten leben?« Ich sagte, ich wolle studieren, was stimmte. Sie sah mich lange prüfend an, rieb mit dem Zeigefinger über die Tischkante, sagte nichts. Ihre Zunge erkundete ihre Mundhöhle, als wäre sie noch nie dort gewesen. Eine Reihe von Gefühlen, gefolgt von Gedanken über diese Gefühle, betraten die Bühne ihres Gesichts, posierten dort einen Augenblick und stolzierten anschließend vom Laufsteg, um von ihrem Nachfolger ersetzt zu werden. Dann schrieb sie etwas in meine Akte und sagte: »Seien Sie ein guter Student.«
    Das Komische war, dass ich den ganzen Vormittag über echt ruhig gewesen war. Wahrscheinlich lag das an der Pille, die mir Ana am Abend zuvor gegeben hatte. Ich konnte nicht schlafen, und als ich mich ins Badezimmer schlich, hörte ich sie in der Küche. Sie stöhnte, glaubte, sie sei die Einzige, die noch wach war, gab sich in vermeintlicher Einsamkeit ihrenSchmerzen hin. Kaum sah sie mich, ließ sie die linke Hand von ihrem verbundenen Arm fallen und grinste breit, ein bisschen verlegen und ein bisschen erschrocken, als hätte ich sie dabei erwischt, wie sie sich selbst berührte. Sie wollte wissen, warum ich mitten in der Nacht angezogen war. Ich sagte es ihr, und sie gab mir eine Pille, die mich außer Gefecht setzen sollte, was sie auch zuverlässig tat. Um neun Uhr morgens wachte ich auf, vollkommen erholt und super ruhig.
    Eine auf gesunde Weise mollige Frau kam aus einer Tür mit der Aufschrift IRC, las einen bosnischen Familiennamen von

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