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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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einer Liste ab und suchte dessen Träger unter uns, presste sich ihr Klemmbrett an den Busen und lächelte unbestimmt aufmunternd, nicht entschlüsselbar. Ihrem Gesicht konnte man nicht ansehen, ob man gerade den Hauptpreis gewonnen hatte oder gleich hingerichtet werden würde. Ein Mann mit grauen Haaren am anderen Ende meiner Bank sprang verzweifelt auf, ließ seine Dokumente fallen, sein Gesicht war voller Hoffnung und Angst. Seine Bauernhände waren schwielig und dick und den Umgang mit Papieren nicht gewohnt, und er brauchte einige Zeit, bis er sie vom Teppichboden aufgelesen hatte. Durch die Leinwand seines Gesichts konnte ich genau sehen, wo seine Augenhöhlen lagen und seine spitzbogenförmigen Wangenknochen hervortraten. Die Frau wartete ruhig, und als er neben ihr stand, dirigierte sie ihn durch eine große weiße Tür. Wir anderen tuschelten.
    Als er nach einiger Zeit herauskam und langsam zur Bank ging, um seinen Mantel zu holen, gebückt und wachsam, als müsse er ein Minenfeld überqueren, da war sein Gesicht wie eine Verkleidung. Wir alle sahen ihn an, versuchten seinen Ausdruck zu entschlüsseln, seine Gesten, aber er mied unsere Blicke, starrte nur stur auf den Fußboden. Viel Glück , nuschelte er und trat in Hemd und Pullover auf die Straße. Dort zog er seinen Mantel über, knöpfte ihn zu, holte ein Paar blaue Wollhandschuhe aus der Tasche, fummelte die Händehinein, stellte den Kragen bis zu den Ohren auf, blickte nach rechts, blickte nach links und schritt in den Matsch.
    »Ob sie den reingelassen haben?«, fragte einer in den Raum hinein.
    »Auf keinen Fall«, sagte ein anderer.
    Von meinem Platz aus sah ich den Mann ein Stückchen weiter stehenbleiben und länger als eine Minute in die wirbelnden Schneeflocken starren, die Beine breit, die Arme geöffnet, als wolle er einen Segen oder eine Strafe empfangen. Ich konnte nicht erkennen, ob er den Göttern für eine wundersame Wendung dankte oder sie wegen ihrer kalten und fürchterlichen Ungerechtigkeit verfluchte. Schließlich ging er weiter und verschwand im Strom der Menschen. Die Taube bekam von all dem nichts mit und blinzelte einfach weiter in den Wind.
    »Prtschitsch« sprach die Frau mit dem Klemmbrett meinen Namen falsch aus, und ich erhob mich und folgte ihr durch die weiße Tür, kratzte mir die starrenden Blicke vom Hinterkopf. Kaum war die Tür hinter mir ins Schloss gefallen, bat sie mich, meine Gefühle beim Rausgehen im Zaum zu halten, egal wie mein Fall ausgegangen sein mochte, um Rücksicht auf die anderen Bewerber zu nehmen. Ich fragte sie, ob sie mir sagen könne, ob der Mann vor mir angenommen oder abgelehnt worden war und sie erwiderte, derlei Informationen dürfe sie nicht weitergeben. Ich trat mit einem Lächeln ins Büro, weil mir klarwurde, dass ich vorerst nicht schauspielern musste.
    Vater war erleichtert, als ich ihm aus der völlig zerkratzten Telefonzelle im Hauptpostamt die Neuigkeiten mitteilte. Er verstand nicht, warum ich immer noch wütend auf ihn war, weil er nicht wie versprochen einen Deal mit Branka ausgehandelt hatte, und warum ich ihn bat, dass er Mutter den Hörer gab. Sie sagte ihre frohen Worte auf, als sie es hörte. Jefroher die Worte, umso brutaler war das unausgesprochene Gefühl von Unheil und Reue, das in ihrer Stimme lag. Ihr Baby reiste rund um den Erdball, und als ihr das bewusst wurde, platzte der Kloß in ihrem Hals, und sie fing an zu schluchzen, sich zu entschuldigen, sie sagte, ich solle mir nichts draus machen, sie sei nur ein bisschen überemotional, und wenig später beendete sie das Gespräch.
    Allison kreischte mir das Ohr ab, dann sagte auch sie ihre frohen Worte, die ehrlich klangen, aber auch distanziert, und die Automatenstimme sagte, wir hätten nur noch eine Minute, und die verbrachten wir damit, uns in allen Sprachen, die wir kannten, ich liebe dich zu sagen: I love you, volim te, mahal kita, te amo …
    Die Straße draußen war von Hare-Krishna-Geklapper erfüllt. Eine Prozession von ungefähr zwanzig weiß und orange gekleideten Menschen kam singend und tanzend näher, begleitet von einer Rhythmusgruppe, und machte vor dem Eingang irgendeines Großmarktes halt. Passanten blieben stehen, neugierig, was es zu feiern gäbe. Es war, als würden sich plötzlich alle mit mir freuen. Das Automatisierte der Realität, das ich zuvor an diesem Tag erlebt hatte, wurde auf glorreiche Weise unterbrochen, und ich konnte gar nicht mehr aufhören zu lächeln. Ich tanzte und sang mit der

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