Scherben
sich auf diesen Seiten. Du hast keine Ahnung, wer ich wirklich bin.
Ich lese alles, was ich geschrieben habe. Warum schreibe ich über Mustafa? Warum hat Mustafa dieselben Erinnerungen wie ich? Warum habe ich Ana sterben lassen? Warum habe ich aus Asmir ein solches Arschloch gemacht? Warum ist Mustafas Bild auf dem Grab seines Bruders? Ich glaube, ich wollte, dass er lebt. Das Bild war Mustafas Trick, um nicht mehr kämpfen zu müssen, um davonzulaufen, um auf wundersame Weise zu verschwinden, neu anzufangen, mein Leben zu leben.
Das würde mir auch sehr gut gefallen. Ein neuer Anfang. Alter Körper, alter Geist, alles Alte vergessen und erledigt. Neuer Körper, neuer Geist, alles neu. Was für ein Traum.
Ben und Jen machen sich Sorgen um mich. Seit Melissa ausgezogen ist, fühlen sie sich verpflichtet, mir zu helfen, darüber hinwegzukommen. Sie klopfen an meine Tür und erzählen mir Witze. Sie laden Leute zum Grillen ein. Sie wollen, dass ich mit ihnen Karten, Trivial Pursuit oder Frisbee im Park spiele. Aber inzwischen liegt auch Angst in Jens Augen. Wahrscheinlich ist es die Pistole. Ich habe den Fehler gemacht, sie ihr zu zeigen. Wenn sie früher als ihr Freund nach Hause kommt, bleibt sie in ihrem Teil des Hauses, um sich ein bisschen auszuruhen , angeblich. Erst, wenn er wieder da ist, kommt sie raus.
Ich gehe nicht mehr zur Uni, mati . Ich habe meine Miete nicht bezahlt. Sie werden mich rausschmeißen, denke ich.
Es tut mir leid, dass du mich zur Welt bringen musstest, lieben musstest.
Du hast keine Wehen gehabt. Sie mussten sie künstlich einleiten. Und als sie mich aus dir rausgezogen haben, war ich blau und tot. Sie wickelten mir die Nabelschnur vom Hals und drückten mir auf die winzige Brust und bliesen mir eisige Luft in die Kehle. Ich erwachte zum Leben. Sie zwangen mich zu leben.
Die süßen Geschichten, die du erzählst. Dass dir alle gratulierten, weil ich so groß war. Du bist eine kleine Frau. Ich wog über zehn Pfund. Großer Kopf. Voller Haare. Und überfällig. Ich habe das ganze Calcium aus deinem Körper gesogen. Sie mussten dir ein paar Zähne ziehen. Jetzt mit vierundfünfzig musst du dich mit Osteoporose rumschlagen. Brüchige Knochen. Und mein riesiger Kopf. Du konntest nie wieder richtig pinkeln, oder? Musstest dein ganzes Leben lang Einlagen tragen. Dazudie Schwangerschaftsstreifen. Rinnsale. Wie die Oberfläche des Mars.
Es tut mir alles leid.
Du hast es nur lachend abgetan und erzählt, als zwei Schwestern in dein Krankenzimmer kamen, um die Neugeborenen den jungen Müttern zuzuordnen, habe die erste sechs Babys getragen, drei auf jedem Arm, alle weiß eingewickelt und verpackt wie Minimumien, die zweite Schwester sei mit einem einzigen Riesenbaby mit großem dunklen Wackelkopf hereingekommen – das war ich. Ich hatte nicht die Muskeln, um das Ding hochzuhalten. Du hast später gesagt, es sei der beste Tag deines Lebens gewesen. Aber das ist deine Geschichte. Geschichten sind nicht real.
Ich habe darüber nachgedacht, mit dem Buch weiterzumachen, zu schreiben, was passiert ist, als ich nach Kalifornien kam, wie ich Melissa kennenlernte, die Geschichte unserer Liebe. Aber wenn man ein Leben in eine Geschichte presst, wird man unweigerlich zur Romanfigur, und wenn die Geschichte endet, endet man selbst auch. Ich habe die Geschichte meiner Flucht beendet, und sie hat mich beendet. Es gibt keine Erzählung mehr, die ich heraufbeschwören und rund klingen lassen und hinter der ich mich verstecken kann. Jetzt ist da nur noch das Chaos des Lebens.
Mehmed sagt, ich soll die Fresse halten, wenn ich ihm sage, dass es mir nicht gutgeht. Er denkt, das einzig Schwierige sei, aus Bosnien rauszukommen. Er hält mich für ein Weichei und glaubt, wenn er in San Diego wäre, wäre er glücklich und dankbar. Vielleicht stimmt das ja. Und vielleicht wäre ich glücklicher, wenn ich in Bosniengeblieben wäre. Ich träume von Mustafa. Ich glaube, ich habe ihn neulich beim Einkaufen gesehen, er wollte einen Zwanziger wechseln. Ich habe Angst vor dem, was ich möglicherweise imstande bin zu tun.
Vor einiger Zeit, bevor Melissa endgültig Schluss gemacht hat und mit diesem Typen nach Los Angeles gezogen ist, in dieses grüne Wohnhaus in der Micheltorena Street (ja, ich bin hingefahren und habe an einem Freitag auf der anderen Straßenseite vor der Grundschule geparkt, ich bin die ganze Nacht aufgeblieben, aber sie sind nicht rausgekommen, und am Morgen war da ein Eichhörnchen, das die Straße
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