Scherben
auf einem Telefonkabel überquerte, und ich sah seinen perfekt ausbalancierten Schwanz, der die Form eines auf dem Kopf stehenden Fragezeichens hatte, und ich dachte, dass ich etwas über Verlust und Liebe begriffen hätte, aber schon am nächsten Tag, wieder hier in San Diego, war es nur noch ein Eichhörnchen, das vorsichtig über eine Telefonleitung lief, und ich verstand gar nichts mehr), redeten wir über uns, und sie sagte, ich würde zu viele Leben leben.
Paralleluniversen vielleicht? Stringtheorie?
Ich werde dir nie wieder schreiben, mati, weder die Wahrheit noch Lügen. Verzeih mir. Vergiss mich.
(… scherben vom ich …)
»Mutter zu sein ist der schlimmste Beruf der Welt«, schrieb sie in einem Brief.
Sie schrieb, sie habe wieder versucht, sich umzubringen. Sie schrieb, sie habe eine mentale Krise, und mein Vater und mein Bruder hätten ihr nicht geglaubt und gedacht, sie täte es aus Boshaftigkeit, und damit sei sie nicht klargekommen, sie sei in das Zimmer meines Bruders gerannt, habe sich dort eingeschlossen, ein Fenster geöffnet und mit baumelnden Füßen auf dem Fensterbrett im vierten Stock gesessen. Sie sagte, sie habe ein letztes Gebet gesprochen und gerade springen wollen, als sie etwas davon abhielt, sie sei ganz benommen gewesen und habe vier Mädchen gesehen, die ihr in Zeitlupe vom Parkplatz zugewunken hätten, und die Sonne habe sie schläfrig gemacht, und als sie wieder zu sich kam, hätten dort unten Feuerwehrleute gestanden und eine Traube von Menschen, die alle hochsahen, und dann habe mein Dad irgendwie die Tür aufbekommen und sie ins Zimmer gezogen. Sie schrieb, mit der Familie sei es seit meiner Abreise den Bach runtergegangen, alles habe sich in der Nacht verändert, in der ich mit meiner Theatertruppe in den Bus stieg, der uns nach Schottland brachte. Sie schrieb, sie vermisse mich, so wie man einen Körperteil vermisst. Sie schrieb, sie glaube jetzt an Gott. Sie schrieb, sie wisse nicht, wie lange es sie noch geben würde, aber dass ich sie glücklich mache.
Es gibt da etwas, das ich jedes Mal tue, wenn ich in der Abenddämmerung vom College nach Hause fahre. Ich beschleunige auf der rechten Spur bis auf siebzig Meilen, dann gehe ich vom Gas, rolle in die Ausfahrt Pershing Drive, verschränke die Arme vor der Brust und gleite den Bogen der Überführung erst hinauf, dann hinunter. Meine Lenkung ist total im Arsch, der Wagen zieht nach links und folgt der Kurve ganz von alleine, ohne Fahrer. An der höchsten Stelle der Überführung schaue ich nach rechts und sehe die entfernte Klinge der Coronado Bridge im Abendlicht, und ich stelle mir vor, was passieren würde, wenn ich einfach die Augen schließen und sie niemals wieder öffnen würde.
Ein vertrauter, wiederkehrender Gedanke.
Mein Geist ist durch die B-Movies verdorben, die ich mir jede Nacht ansehe, weil ich nicht schlafen kann, und oft, wenn ich oben über die Überführung fahre, sehe ich alte Karren aus den Siebzigern von Brücken fliegen und explodieren, bevor sie unten aufschlagen, die Arme der Attrappen auf den Fahrersitzen schlenkern knochenlos herum. Ich lache darüber und habe großen Spaß an diesem Feierabendritual.
Manchmal jedoch schließe ich wirklich die Augen. Nicht mehr so oft wie am Anfang, als Melissa mich verlassen hat, aber von Zeit zu Zeit, wenn sie mir aus heiterem Himmel eine E-Mail schickt, oder wenn ich eine Rothaarige sehe. Ich schließe die Augen, doch kein Adrenalin gelangt ins Blut, mein Körper spannt sich nicht an, sondern wird ganz schlaff, und ich werde schläfrig und denke an vergangene Zeiten. In dieser Dunkelheit wünsche ich mir, ich wäre anderswo, wäre ein anderer, und ich lasse los und bin tatsächlich weg, einen Moment lang weg, bis mich mein Verstand zurückholt, mich daran erinnert, wo ich bin, und ich öffne die Augen und packe das Lenkrad. Es ist schrecklich, wenn das passiert, eine antrainierte Reaktion, keine echte Entscheidung für das Leben, reine Gewohnheit. Mustafa wurde gezwungen, dieHoden seines Bruders zu essen und ihm die Kehle durchzuschneiden. Er hat sich für das Leben entschieden.
An der ersten roten Ampel sehe ich einen Jogger, er ist in den Siebzigern, trägt kurze Radlerhosen, seine braungebrannten Beine sind schrumpelig, übersät mit Krampfadern. Sein Gesicht wirkt elend, sein Mund ist geöffnet, ein nierenförmiges Loch, die Mundwinkel hängen und lassen die Luft in kurzen Schüben entweichen, und ich bin beglückt und angewidert zugleich. Diese
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