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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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steckenblieb, meist prallte es jedoch ab, und wir mussten es im Farnkraut suchen. Wir dachten uns komplizierte Handlungsabläufe aus, denen zufolge unser Ninjateam ein Entführungsopfer rettete, ein unbezahlbares Kunstwerk wiederfand oder einen bösen Drogenbaron und seine Schergen ermordete. Je besser die Geschichten, desto klarer wurde uns, dass wir nur spielten, dass alles reine Fantasie war und wir mehr wollten, einen Hauch echter Gefahr.
    Den ganzen Sommer über hatten Mehmed und ich viel Zeit damit verbracht, gemeinsam mit Marija und Ostojka eine bestimmte Stelle im Wald freizuräumen, um dort unseren eigenen kleinen Park oder botanischen Garten anzulegen. Wir wollten Teiche mit Goldfischen, Springbrunnen und Wasserfällen. Wir wollten Brücken, Bänke und Abfalleimer. Wir wollten Baumhäuser und Schwingseile. Wir hatten uns alles bis ins kleinste Detail überlegt, aber in Wirklichkeit war da einfach nur ein aufgeräumtes Stück Wald, wo wir das Laub vom Boden gefegt und die struppigen Sträucher gestutzt hatten, damit sie rund und gefällig wirkten. An einem Baum hing ein grellbuntes Holzschild, das diesen Teil des Waldes zu unserem Park erklärte.
    Als mein Ninja-Team an diesem Tag eintraf, hatte ich eine Idee, wie wir unser Spiel ein bisschen spannender gestalten konnten. Marija und Ostojka waren Adi nie zuvor begegnet, sie hatten keine Ahnung, dass er überhaupt da war, und ich erklärte den beiden, dass wir das ausnutzen konnten für eine coole kleine Verschwörung. Zunächst setzten wir auf einer Seite meines Tagebuchs ein Erpresserschreiben auf, wobei jeder von uns jeden dritten Buchstaben schrieb, damit die Handschrift nicht zu erkennen war. Der Text lautete ungefähr: Wenn ihr uns nicht [geringfügige Geldsumme] bezahlt, werden wir euren schönen Park zerstören .
    Dann zogen Mehmed und ich los, um Marija und Ostojka in den Park zu locken, wobei wir Adi mit dem Messer, einer Rauchbombe aus einem aufgeschnittenen und in Alufolie gewickelten Tischtennisball sowie ausführlichen Anweisungen zurückließen, was er zu tun habe, wenn wir mit den Mädchen zurückkämen. Er spielte bereitwillig mit, weil er den Actionkram übernehmen durfte.
    Wir trafen Marija beim Schweinefüttern an. Sie sah aus, als sei sie ein bisschen zu früh und zu schnell in die Pubertät geschossen, mit ihrem Mund voller Zähne, die ein kleines bisschen zu groß für ihren Schädel waren, und den Armen, die allzu lang an ihrer taillenlosen Gestalt baumelten. Sie trug die Haare zu zwei schlaffen Zöpfen geflochten, die ihr um den Kopf schlugen, als sie einen Eimer Schrotmehl über den Zaun des Schweinekobens kippte, dessen Bewohner ekstatisch reagierten, kreischten, einander anrempelten und mit offenen Mäulern schmatzten. Wir unterdrückten unsere Aufregung und luden sie ganz beiläufig ein, uns in den Park zu begleiten, und sie sagte ja. Sie meinte, wir könnten ja noch ein bisschen an den Sträuchern arbeiten, vielleicht denganzen Park vergrößern, und dann holte sie Ostojka, die mit ihren launischen braunen Augen und ihrer bronzefarbenen Haut wie die Tochter einer anderen Mutter aussah, jedenfalls nicht wie die Schwester von Marija, die blass war, ausdruckslose blaue Augen hatte und Sommersprossen.
    Irgendwas an der Art, wie wir den Hügel hinabrannten und unsere Rechen und Heckenscheren wie Keulen oder Banner schwangen, ließ tausend Alarmglocken in meinem Kopf schrillen. Ich sah unbestimmte künftige Gewalt aufblitzen, ein bedrohliches Gemenge aus Farben und gebleckten Zähnen, und ein Teil von mir ahnte, dass dies mit der Unruhe im Land zu tun hatte. Dieser Teil versuchte abzubremsen, die Fersen in den Boden zu stemmen, aber mein dickärschiger Schwung ließ mich über den Bach und in den Wald hineinschießen.
    Marija und Ostojka sahen so glücklich aus. Sie erzählten uns, sie hätten in der vergangenen Woche ein Wildschwein gesehen, und wie schnell es durchs Laub gerannt sei. Sie fragten mich, ob Muslime Wildschwein essen durften. Ich sagte, ich sei nicht sicher. Ich fing an zu schwitzen. Ich überlegte, ob ich ihnen sagen sollte, was sie erwartete, tat es aber nicht. Ich konnte nicht.
    Wir erreichten den Rand des Parks, als etwas aus dem Dickicht geflogen kam und ungefähr sechs Schritte vor uns landete. Es wirbelte zischend auf dem feuchten Boden herum und stieß beißenden, nach verbrannten Haaren stinkenden Rauch aus. Durch den Rauch wirkte plötzlich alles langsam und unecht. Ostojka schrie. Marija ging hinter einem Baum

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