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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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und meinem Bruder tausendmal erklärte) halb Tuzla gehört hatte, bis ihm die Kommunisten alles wegnahmen.
    Sie respektierten ihn aus den falschen Gründen. Tatsächlich hatten meinem Urgroßvater Abdulaziz-aga ungefähr vierzig Häuser in Tuzla, eines der ersten Automobile der Stadt und große Teile des Landes gehört, auf dem die heutigen neuen Viertel errichtet wurden, aber das alles hatte ihm nicht gehört, weil er adliger Abstammung war oder gebildet, sondern weil er ein skrupelloser Geschäftsmann war, der es bis ganz nach oben geschafft hatte, indem er alle anderen brutal abdrängte und im richtigen Moment auf einer gestrichelten Linie einen Fingerabdruck oder ein krakeliges X setzte.
    Der Scherz meines Vaters hatte etwas Ordinäres, etwas Herablassendes. Er war frei von Ironie, grausam und geschmacklos. Die Geschichte war einfach nicht mehr witzig, nicht mal für mich. Aber er machte weiter und Großmutter sagte immer wieder »wirklich« und » Mašala «, und meine Tante und mein Onkel blickten stoisch auf ihre nackten Füße und erduldeten diese Behandlung wortlos.
    Dann kam meine Mutter aus dem Haus, bis zu den Ellbogen mit Mehl bestäubt, und verriet ihnen, dass Vater sie auf den Arm nahm und in Wirklichkeit sie die Treppe entworfen habe. Mein Vater brach in sein gemeines Lachen aus und verbot uns, ernst zu gucken, er habe doch nur Spaß gemacht. Und so lächelten wir alle durch zusammengebissene Zähne, auch Großmutter, doch in ihren weit aufgerissenen Augen lag ein Anflug von Verletztheit.
    Ich war damals in einer intensiven Ninja-Phase und steckte alle in meinem Umfeld damit an. Sie hatten keine Chance, sobesessen wie ich war. Ich lieh jeden drittklassigen Film aus, in dessen Titel das Wort »Ninja« vorkam. Maskierte Stuntmen sprangen fünf Meter rückwärts auf Äste und Dächer, lieferten sich noch in der Luft zweiminütige Schwertkämpfe, verschwanden und tauchten umgeben von kleinen Rauchwolken wieder auf. Die grotesk formelhaften Geschichten, die alle an denselben ein oder zwei Orten gedreht wurden und in denen immer jemand namens Richard Harrison in einem lila- oder magentafarbenen Ninja-Suit die Hauptrolle spielte, ließen im Zuge der Ninja-Turtle-Manie, die gerade die Welt überschwemmte, die Kassen klingeln. Ich teilte die kleineren Kinder aus unserem Viertel in eine Art Ninja-Schule ein, ließ mich sensei nennen, verpasste ihnen Geheimnamen, bastelte Geheimausweise, die in einem Geheimalphabet verfasst waren, das sie auswendig lernen mussten, um anschließend die Ausweise zu vernichten. Ich schnitt Anleitungen für Kampfkunstübungen aus Black Belt aus und ließ sie die Bewegungsabläufe bis zum Erbrechen wiederholen. Ich kritzelte die Beschreibungen epischer Ninjaschlachten in meine Schulhefte. Sogar meine Mutter, du liebe Güte, kannte die japanischen Bezeichnungen aller traditionellen Waffen, die per Mailorder ins Haus kamen, aus Holz nachempfunden.
    »Ismet, du hast dein kusari-gama auf dem Balkon liegen lassen. Wenn ich noch mal drüberstolpere, schmeiß ich es weg!«
    Die Saat dieses Wahns wurde gelegt, als ich auf Onkel Medos Stapel billiger pornografischer Romane stieß, die von dem einzigen blauäugigen Amerikaner handelten, dem es jemals vergönnt war, die Kunst und Magie des Ninjutsu zu beherrschen. Er brachte die Hauptakteure des organisierten Verbrechens weltweit zur Strecke, wobei er gleichzeitig ihre verwöhnten Ehefrauen, ihre nah am Wasser gebauten Freundinnen, ihre rothaarigen Sekretärinnen, Lieblingsnutten, ihre nymphomanischen Töchter, ihre Strandhäschenschwestern, ihre lüsternen S/M-Mütter und auch alle anderen Frauen vögelte, die sich zufällig in der Nähe aufhielten, also mehr oder weniger alles, was sich bewegte. Wurde eine Frau in die Geschichte eingeführt, konnte man sicher sein, dass er sie wenig später flachlegte. Ich war ein solcher Spätzünder, dass ich die Ninja-Action-Passagen genauso aufregend fand wie die lächerlichen sexuellen Ausschweifungen.
    Nach einem frühen Mittagessen, zu dem es Auflauf mit Kürbis aus dem Garten gab, stahl ich das stumpfe alte Schlachtermesser aus der Küchenschublade und ging mit meinem Bruder und Adi zum Spielen in den Wald. Wir setzten uns auf die von Flechten überwucherten Baumstümpfe und taten, als würden wir meditieren. Wir schlugen nach den Käfern, die uns über Hals, Knie und Finger krabbelten, als befänden wir uns im Krieg mit ihnen. Wir versuchten das Messer so zu werfen, dass es in einem Baum

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