Scherben
ließen wir uns vom Krieg täuschen, nur meine Mutter nicht.
In der Nacht nach unserem Streich in Kovačevo Selo träumte meine Mutter von Tschetniks, obwohl sie in ihrem ganzen Leben noch keinen gesehen hatte. Ihr Unterbewusstsein beschwor sie aus unscharfen Schwarzweißfotografien in Büchern über den Zweiten Weltkrieg herauf, Tschetniks mit langen schwarzen Bärten, schwarzen Kappen und Uniformen, großen Messern und vor der Brust gekreuzten Patronengurten. Sie sagte, sie habe sich selbst vor ihnen weglaufen sehen, habe kleine gesichtslose Kinder auf dem Arm gehabt,vermutlich meinen Bruder und mich. Sie sah kopflose Körper am Ufer entlangtaumeln und in den schlammigen, angeschwollenen Fluss stürzen, sie sah brennende Heuhaufen, durchsiebte Gebäude und sturmschwangere Wolken, die so dicht über dem Boden hingen, dass sie unsere Köpfe teilweise verdeckten.
Von jetzt an weigerte sie sich, über Nacht im Wochenendhaus zu bleiben, und nutzte jeden Vorwand, um uns, die Kinder, gar nicht erst dorthin mitnehmen zu müssen. Vater und sie unternahmen kurze Ausflüge, um im Garten zu arbeiten, das Gemüse zu ernten, das Laub aus der Regenrinne zu holen und solche Dinge zu erledigen, kehrten aber stets vor Anbruch der Dunkelheit zurück. Mein Vater, ein Meister darin, grundsätzlich den Weg des geringsten Widerstands zu nehmen, munterte sie auf, wenn sie da war, und machte sich in ihrer Abwesenheit über sie lustig. »Deine Mutter und ihre Verschwörungstheorien«, sagte er, oder: »Weil deine Mutter schlecht geträumt hat, können wir jetzt nicht mehr in unserem eigenen Haus übernachten.«
Als wir einmal doch mitfuhren, kochte Mutter ajvar und wollte anschließend die noch warmen Gläser in den Schuppen tragen, als Marijas und Ostojkas Mutter, die gerade ein abtrünniges Fohlen zurückzuholen versuchte, am Zaun auftauchte.
»Nachbarin, was machst du da?«, rief die Frau.
»Nur ein bisschen ajvar . Wir haben so viele Auberginen in diesem Jahr, und die Paprikas waren auch nicht schlecht. Da hab ich gedacht, ich mach was draus, anstatt sie im Ganzen einzufrieren und die Tiefkühltruhe vollzustopfen.«
»Mach nur, mach nur, wer weiß, wer’s mal essen wird«, sagte die Frau und sprang über den Bach in den Wald.
Mutter erstarrte. Sie stand da, in jeder Hand ein Einmachglas, sie drehte und wendete den Satz und versuchte, eine nicht bedrohliche Interpretation dafür zu finden. Sie spürte ihrenAtem, sie roch das Harz und das nahe Plumpsklo, sie hörte die Insekten summen und nach paarungswilligen Artgenossen rufen, sie spürte den Wind. Und nach einer Weile ergab alles einen neuen Sinn. Ihr Gehirn entschlüsselte den Code, der all dem zugrunde lag, und sie begriff, dass es falsch war, entsetzlich falsch, durchtränkt von Falschheit, und dass es immer schlimmer wurde. Sie blickte auf unser Haus und sah es einen Augenblick lang tatsächlich ohne Dach, ohne Treppe, leer.
Dann ging sie zu unserem dunkelblauen Fiat, öffnete den Kofferraum und stellte die Gläser hinein. Sie kehrte zum Schuppen zurück und tat dasselbe mit zwei weiteren Gläsern, dann noch zweien und noch zweien, und sie hörte erst auf, als der Kofferraum gefüllt war mit ajvar , eingelegtem Gemüse, eingelegten und mit Kohl gefüllten Paprikas, eingelegter roter Bete, Birnenmarmelade, Himbeermarmelade, Flaschen mit Rosensirup, Kartoffelsäcken, Karotten, Schachteln mit getrocknetem Baldrian, ganzen Kürbissen, allem. Sie ließ Mehmed und mich in den Wagen steigen, suchte meinen Vater, der am Brunnen werkelte, und sagte ihm, er solle uns nach Hause fahren. Das war das letzte Mal, dass sie unser Wochenendhaus oder das Grundstück sah.
»Für mich könnte es auch abgebrannt sein«, sagte sie, wenn Vater versuchte, sie umzustimmen. Von da an verbrachten wir unsere Wochenenden vor dem Fernseher. Mein Vater hielt Nickerchen und trank, meine Mutter starrte ins Leere und rauchte Kette.
Im Fernsehen zeigten sie jetzt ständig Bilder aus der kroatischen Stadt Vukovar nördlich von Tuzla. Die Gebäude lagen in Trümmern, die Bürger flohen über verschneite Straßen, ihre gesamten Besitztümer auf Pferdewagen, in sperrigen Koffern oder in ihren Manteltaschen, die zerschossenen Straßen waren voller serbischer Banner, dazu ertönte Musik, auf den Ladeflächen der Wagen tanzten und schunkelten Neo-Tschetniks, sie lächelten in die Kameras, während die Reifen der Laster ungesehen das Fleisch und die Knochen derjenigen zermalmten, die schon zu durchlöchert waren,
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