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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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in Deckung. Mehmed schaute mich an, wollte wissen, was ich machte. Ich stand nur da und sah zu.
    Adi, meine Ninja-Maske vor dem Gesicht, sprang waagerecht durch die Luft, vollführte einen unbeholfenen Purzelbaum und nagelte das Erpresserschreiben mit dem Küchenmesser an einen Baumstamm. Dann sprang er hoch und tratgegen das Holzschild, das an Seilen hin- und herschwang, sich in einem der niedrigeren Äste verfing und im Blattwerk hängenblieb. Sekunden später war nur noch das Rascheln trockener Blätter zu hören, das Adis blitzschnelle Flucht in den Wald begleitete, und natürlich das schrille Kreischen der Mädchen.
    Ich hatte mir den Plan in der Erwartung ausgedacht, dass Marija und Ostojka darauf anspringen würden, wie Kinder auf Stücke anspringen, die für sie geschrieben wurden. Nicht eine Sekunde lang hatte ich vorhergesehen, welche Hysterie sie ergriff und mit was für Flüchen sie uns bedachten, Flüche, die sich kein Kind ausdenken kann, sondern die es von Erwachsenen hören muss, Flüche gegen Adis Mutter (sie richten sich immer gegen die Mütter), gespickt mit Worten wie »Fundamentalist«, »Türke« und »Terrorist«. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass Adi fliegenden Heckenscheren ausweichen oder mit dem Kopf voran über einen Stacheldrahtzaun in ein Maisfeld abtauchen müsste. Dass Ostojka die Rauchbombe austreten und Marija das Messer und das Erpresserschreiben vom Baum ziehen und damit schreiend zu ihrem Vater und ihrem Großvater den Hügel hinaufrasen würden.
    Inmitten der Panik kam mir der Wald plötzlich gefährlich und dunkel vor, und Mehmed und ich hatten das Gefühl, dass auch wir um unser Leben laufen müssten. Es war, als hätten wir etwas Großes und sehr Altes zum Leben erweckt. Der Wald lebte. Die Bäume beugten sich über uns, versuchten uns mit ihren Krallen zu packen. Brombeersträucher streckten ihre klebrigen Fühler nach unseren Fußgelenken aus, brachten uns zum Stolpern, zerrten an unseren Socken. Der Boden selbst sonderte einen giftigen Schlamm aus fauligem toten Laub und Tieren ab, versuchte uns zu Fall zu bringen, uns zu fangen und ganz langsam zu verdauen, bis nurnoch winzige Skelette mit Glasmurmeln und Ninja-Masken in den verwesenden Taschen übrig sein würden.
    Bleich vor Angst erreichten wir das Grundstück, und als Großmutter fragte, wo Adi sei, behaupteten wir, gerade Verstecken zu spielen. Sie sagte, der Eintopf sei erst in ein oder zwei Stunden fertig, und wenn wir vorher schon etwas essen wollten, solllten wir unsere Mutter um eine Scheibe Brot mit Pflaumenmarmelade bitten. Dann kam Adi anmarschiert, völlig verschwitzt und rot im Gesicht, außer Atem, das Haar voller Spinnweben, die Knie fleckig. Er tat, als sei nichts Außergewöhnliches passiert. Wir erklärten, wir wollten zum Lesen – ausgerechnet! – nach oben gehen, und niemand nahm uns das ab. Meine Mutter und meine Tante standen schon auf halber Treppe, um zu fragen, was los sei, als sie drei Generationen von Stojkovićs den Hang herunterkommen und das grüne Gras verdunkeln sahen.
    Jedem, meiner Familie genauso wie den Stojkovićs, war klar, wer was getan hatte. Alle wussten, dass wir die einzigen Jungen waren, die im Wald spielten. Merkwürdigerweise aber ignorierten beide Parteien das Naheliegende und verwandelten das Ganze in ein Theater, das ich nicht begriff.
    Die Stojkovićs schrien und schimpften auf böswillige muslimische Extremisten, die unsere Wälder abbrannten, unsere Kinder bedrohten, Nachbarn gegeneinander aufhetzten und das ganze Land zerstörten. Sie verfluchten deren türkische Mütter, ihre dreckigen Gebetsteppiche und sämtlichen Vorfahren bis zurück zu Mohammed. Und immer wieder versicherten sie, nicht wir seien gemeint, sondern die muslimischen Extremisten, die Jugoslawien zerstören wollten. Aus irgendeinem Grund senkten alle Erwachsenen meiner Familie einvernehmlich die Köpfe, leugneten, an irgendetwas beteiligt gewesen zu sein, nuschelten beschwichtigende Worte und ließen die Salve an Beschimpfungen über sichergehen, die sich gegen irgendwelche anderen Muslime und nicht gegen uns richtete, obwohl wir die einzigen Muslime im ganzen Dorf waren.
    Ich fing an, der Version der Stojkovićs Glauben zu schenken, und war froh, dass anscheinend alle annahmen, ich hätte nichts damit zu tun. Ich war erstaunt, wie hervorragend die Aktivisten dieser islamistischen Terrorzelle organisiert gewesen sein mussten, wenn sie von unserem mickrigen kleinen Park im Wald in der Nähe von

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