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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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Kovačevo Selo erfahren hatten, und für wie wichtig sie ihn offenbar gehalten hatten, wenn sie jemanden losschickten, um ihn zu zerstören. Allerdings hielt dies nur eine halbe Stunde lang an, bis die Nachbarn weg waren – dann brach der Teufel los.
    »Wie konntet ihr nur?«, schrie uns Großmutter an, als wir alle drei in einer Reihe mitten im Raum standen, die Hände auf den schmerzenden Hinterteilen, Tränen auf den Wangen.
    »In Zeiten wie diesen sind solche Streiche gefährlich«, sagte mein Onkel. »Wisst ihr das nicht?«
    Aber wir wussten es nicht. Nicht richtig. Wir wussten, dass die Politiker sich im Fernsehen stritten, dass viel von Religion die Rede war, von Spannungen zwischen Nationalitäten, von verfassungsmäßigen Rechten, aber das waren Fremdwörter für Adi und mich, die wir kurz davor standen, die Welt der Ninjas, Murmeln und Comic-Hefte hinter uns zu lassen und in eine neue Gegenwart der krausen Haare, des Stimmbruchs und der Gedanken an Muschis einzutauchen. Von Mehmed, der erst elf war, ganz zu schweigen.
    »Es wird Krieg geben«, sagte meine Mutter, die sich ihre angezündete Zigarette geistesabwesend vors Gesicht hielt. Alle sahen sie an, als hätte sie behauptet, gleich würden Venusianer landen. Doch in aller Augen flackerte die Angst.
    »Da sei Gott vor«, japste meine Großmutter und schüttelte den Kopf. Ihre schwieligen Finger tippten an die Plastikperlen ihres Tasbih, während sie zikr -Gebete abzählte.
    »Ich glaube nicht, dass es so weit kommen wird«, sagte mein Onkel, doch seine Worte klangen hohl.
    Mutter schwieg.
    Vater schickte uns nach oben. Im Bett versuchte ich mir Krieg vorzustellen und sah Bilder aus kommunistischen Propagandafilmen, in denen Partisanen Nazischweine auf Motorrädern mit Beiwagen niedermähten. Ich sah Rambo. Ich sah Arnold. So wie ich es verstand, war Krieg gut und aufregend, wenn man zu den Guten gehörte, und das Gegenteil, wenn man einer von den Bösen war. Aber war ich gut oder schlecht? War der Erpresserbrief nicht meine Idee gewesen?
    Der Gedanke machte mir eine Heidenangst. Schnell dachte ich: Nein, sie kann nicht Krieg gemeint haben. Ich redete mir ein, mit Krieg sei wahrscheinlich eine Fehde zwischen Nachbarn gemeint, wie sie Vater hatte vermeiden wollen, als er seinen Stolz hinunterschluckte und seine Sense hergab. Mutter war noch durcheinander wegen ihrer Gehirnerschütterung, sagte ich mir. Trotzdem konnte ich nicht schlafen.
    Schon bald sollte sogar mein Vater begreifen, dass die Menschen tatsächlich dumm genug waren, einen klobigen Brocken feuchte Balkanscheiße in einem Topf aufs Feuer zu stellen und zu glauben, die Kacke würde nicht anfangen zu dampfen. Der Krieg kam, die Vorhersage stimmte, und noch Jahre später wurde ich das Gefühl nicht los, es sei alles meine Schuld gewesen, weil ich mir diesen Streich ausgedacht hatte. Ich saß im Keller und plagte mich mit Gewissensbissen wegen all der Toten und all der anderen, die noch sterben würden, während einige Meter über mir meine Stadt unter der Zerstörung ächzte, und ich wünschte mir eine Zeitmaschine, um den längst vergangenen Tag noch einmal neu zu beginnen.
    Im darauffolgenden Herbst, erschüttert von jener Erfahrung und kurz vor dem Wechsel ans Gymnasium, ließ ich meine Ninjaphase widerwillig hinter mir. Feierlich, wie ein gealterter Krieger mit nachlassender Sehkraft und unsteter Hand, stellte ich meine getreuen Mailorder-Schwerter in die Spinnweben hinter dem Bügelbrett und hängte meine Nunchackusan den Nagel. Ich hatte das Gefühl, dass etwas zu Ende ging, meine Kindheit vielleicht oder die guten alten Zeiten oder was es sonst noch für Klischees gibt, und dass sich etwas Neues, etwas ewig Fremdes und Unheilvolles im Land und in meiner Stadt ausbreitete.
    Es kroch aus den Kanalschächten und zischte aus den Rohren. Es fiel mit dem Regen. Es wehte im Sturm heran. Es ließ sich nieder auf den Seelen, in den Köpfen und im Beton. Wir schoben es mit dem herabgefallenen Laub umher, atmeten es mit dem Staub ein und schluckten es mit dem Essen. Wir spülten es aus unseren Haaren und stießen es ab wie tote Haut. Es schlich sich mit freudschen Versprechern in unsere Worte und bauchtanzte durch unsere Träume. Es war überall, aber wir erkannten es nicht, wir begriffen nicht, was es war. Wir nahmen seinen Ozongeruch war, wir spürten die tödliche Ruhe vor dem Sturm, aber wir schrieben es dem Wechsel der Jahreszeiten zu, erst dem Herbst, dann dem Winter, dann dem Frühling. Alle

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