Scherben
auf ihrem Gepäck schlafen und Brot und Räucherwurst von auf dem Schoß ausgebreiteten Taschentüchern essen, während ihre Kinder Amok laufen, mit klebrigen Fingern auf allem Möglichen herumpatschen und fettige Schmierflecken hinterlassen. Es fühlte sich nach alten russischen Filmen an, nach Dritte-Welt-Elend. Ich war entsetzt.
Mehmed und ich zogen zu Cousin Zvonko, seiner Frau und ihrer Tochter in die ausgebaute Dachgeschosswohnung des ersten Hauses. Zvonko war ein massiger Mann mit hellbraunen Haaren, die er sich über den kahlen Schädel kämmte, und blauen Augen hinter kantigen Brillengläsern. Er war so fett, dass er sich nicht mal mehr die Fußnägel selbst schneiden konnte. Bereits auf der dritten Treppenstufe fing er laut zu keuchen an, und bevor er die Wohnung erreichte, musste er husten und sich schweißgebadet eine halbe Stunde hinsetzen. Seine Frau Zana war das komplette Gegenteil vonihm, so dass man selbst dann Schwierigkeiten gehabt hätte, sich die beiden beim Geschlechtsverkehr vorzustellen, wenn man durch einen seltsamen Winkelzug des Schicksals Zeuge desselben geworden wäre.
Abgesehen von Zvonkos und Zanas Schlafzimmer und dem Bad, bestand die Wohnung aus einem einzigen Raum. Dieser war von Balken und Schornsteinen unterbrochen und roch nach sonnengebleichtem Holz und Staub. In der Ecke hinter dem Fernsehschrank lag, abgeschirmt durch niedrige Bücherregale, auf denen großäugige Puppen und allerhand Mädchenplunder verstaubten, unsere Matratze. Vor unserer Ankunft war das der geheime Platz von Zvonkos Tochter gewesen, was wahrscheinlich erklärte, warum sie so scheiße zu uns war und uns von Anfang an nicht ausstehen konnte. Mir gefiel es nicht, als Flüchtling bezeichnet zu werden, und so gab ich das Geld, das mir mein Vater für Nahrungsmittel gegeben hatte, für Ramones-Platten, Coca-Cola und süßes Kabapulver aus, worauf unsere Gastgeber gelinde gesagt verstimmt reagierten.
»Weißt du eigentlich, dass da draußen Krieg ist?«, fragten sie immer wieder. Ich weinte und rannte die Treppe runter, umkurvte eine Schar schäbiger Flüchtlingskinder und landete in einem Büro, das ich von innen abschloss, um verbotenerweise zu Hause anzurufen. Ich sagte meinem Vater, er solle uns abholen.
Eine Woche später kam meine Mutter, aber nicht, um uns nach Hause zu bringen. Sie saß in einem der letzten Busse, die die Brücke nach Kroatien überquerten, bevor sie in die Luft flog und in die Sava stürzte. Vater blieb zurück, damit er seine Arbeit behielt, nach der Wohnung sehen und den Wellensittich füttern konnte. Mutter trug Jeans und hatte ein paar Reisetaschen dabei. Sie zog zu uns unters Dach.
Damit waren wir jetzt offiziell auf der Flucht.
Mitte Mai sahen wir unseren alten Wohnblock in der Brčanska Malta im Fernsehen. Mitten auf der Kreuzung, die meine Mutter nächtelang mit ihrem winzigen Fernglas überwacht hatte, stand ein brennender olivgrüner Munitionstransporter, die Reifen schmolzen, die Ladung prasselte wie Feuerwerk, Geschosse flogen in alle Richtungen. Dahinter, entlang der Skojevska, standen weitere Laster, einige brannten, andere waren zerschossen, einige festgefahren, andere unberührt, aber fahrerlos. Die Fassaden der Häuser waren durchlöchert. Soldaten waren keine zu sehen, außer denen, die tot herumlagen.
Ein grauer Aschewurm, ungefähr halb so lang wie eine Zigarette, starb ungeraucht am Filter und fiel lautlos auf den Teppich. Ich schob ihn auf eine Anzeigenbeilage aus einer Zeitschrift und warf ihn in den Müll. Als ich zurückkam, sah ich, wie meine Mutter den Filter an die Lippen führte, merkte, dass es nur noch ein Filter war, und sich auf dem Boden nach einem Brandfleck oder einem kleinen Feuer umsah, einigermaßen erfreut, keines zu finden.
Vater rief kurz vor dem Essen an, sagte, es gehe ihm gut, die jugoslawische Volksarmee habe ähnlich wie in Sarajewo versucht, ihren Stützpunkt zu evakuieren und ihre gesamte Artillerie in die Berge im Umkreis der Stadt zu verlegen, um sie von dort aus bequem unter Beschuss zu nehmen, aber die Patriotische Liga habe sie in einen Hinterhalt gelockt und … Die Verbindung wurde mitten im Satz unterbrochen, und er rief nicht wieder an. Meine Mutter stellte allen etwas zu essen hin außer sich selbst und setzte sich rauchend ans offene Fenster. Sie versicherte allen, sie habe einfach keinen Hunger. Dann beging ich den unverzeihlichen Fehler, ein paar Löffel meiner superheißen Suppe hörbar laut zu schlürfen, und Zvonko
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