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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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fürchtete, dem Funkeln in ihren Augen nach zu schließen, es wahrscheinlich nicht zu Ende lesen zu können. Zana kam im Nachthemd aus dem Schlafzimmer, zog ein Gesicht wie ein heraufziehendes Unwetter und fauchte tiefgekränkt ihre Warum-Nurs.
    »Danke für eure Hilfe«, sagte meine Mutter, »aber wir waren jetzt über einen Monat hier, und es ist Zeit zu gehen. Wir wollen euch nicht länger zur Last fallen.«
    »Wo wollt ihr denn hin?«, fragte Zvonko, als wolle er sie auf die Probe stellen. Man konnte nirgendwo hin.
    »Zum Roten Halbmond wie die anderen Flüchtlinge auch«, sagte sie und warf mir einen irren Blick zu, das Signal zum Aufbruch. Ich schluckte, legte das Buch auf den Wohnzimmertisch, stand auf und nahm eine der großen Taschen.
    »Denk doch an die Kinder«, brüllte Zvonko oben von der Treppe, als wir zur Haustür gingen.
    Wir saßen auf unseren Taschen auf dem Parkplatz vor der Moschee in Zagreb in der Sonne.
    Durch die Hitze wirkte der schwarze Asphalt wie verkrustete Lava, in der es noch rumorte, die sichtbare Wellen der roten Hölle ausstrahlte, die darunter brodelte. Autos flackerten, ihre Konturen schmolzen. Hemdlose bosnische Männer hockten auf Rinnsteinen oder Rasenflächen, starrten unbestimmt in Richtung der geschlossenen Türen des Roten Halbmonds; ihre Haut war von der Feldarbeit gegerbt und spannte über ihren deutlich hervortretenden Rücken, Becken und Rippen. Ihre kopftuchtragenden Ehefrauen, Schwestern und Mütter saßen in Grüppchen auf Handtüchern und Decken, fächelten einander missmutig mit Zeitungen Luft zu und riefen ihre verlotterten Kinder zur Ordnung.
    Mutter rauchte und kramte in unseren Taschen, öffnete jedes Fach, schob ihre Hand hinein; vielleicht suchte sie etwas, vielleicht gab sie dem Bedürfnis nach, jedes Stück, das sie besaß, zu berühren. Sie gab uns belegte Brote, tröstete uns, und ungefähr alle halbe Stunde ging sie zur Telefonzelle an der Ecke. Durch die Scheibe beobachteten wir den immer gleichen Ablauf: Sie steckte eine Karte ins Telefon, drückte Tasten und lauschte, lauschte, lauschte, dann legte sie auf, zog die Karte heraus, steckte sie in ihre Handtasche, trat heraus und zündete eine Zigarette an. Jedes Mal.
    Dann kam Cousine Seka mit einem blonden Mann in einem verblichenen Hawaiihemd in einem Transporter. Zvonko hatte sie angerufen und ihr erzählt, was passiert war und wo wir hinwollten. Seka und der Mann arbeiteten für den Roten Halbmond, sie brachten einmal im Monat humanitäre Konvois mit Lebensmitteln und Medikamenten durch unsicheres Gebiet zu den belagerten Bosniern. Mutter sagte, wir sollten auf die Taschen aufpassen, und ging mit Seka und dem Mann ein paar Schritte abseits. Mehmed und ich sahen zu, wie sie miteinander sprachen, und versuchten, anhandihres Verhaltens und ihrer Körpersprache rauszubekommen, was sie sagten. Als sie schließlich zurückkamen, umgab meine Mutter eine andere Aura.
    »Kommt mit, Jungs«, sagte sie und nahm eine Tasche.
    »Wohin denn?«, fragte mein Bruder. Ich packte unsere größte Tasche, aber der blonde Mann tätschelte mir über den Kopf und nahm sie mir aus der Hand.
    »Zu deinem Cousin Pepa in Đakovo«, sagte Seka. Sie hatte die Stimme einer starken Raucherin und kühle kleine Augen. Von einem Cousin namens Pepa hatte ich noch nie etwas gehört.
    »Aber wir wohnen nicht bei ihm im Haus«, korrigierte meine Mutter sie. »Wir bekommen eine eigene Wohnung.«
    »Heißt das, wir sind keine Flüchtlinge mehr?«, fragte mein Bruder, was allen ein bisschen das Herz brach. Mutter stellte ihre Tasche ab und umarmte uns.
    Đakovo verhielt sich zu Zagreb wie Gestrüpp zu einem Wald aus Mammutbäumen. Ein paar Getreidespeicher und eine ausgewachsene Kathedrale aus rotem Backstein, das stolze Wahrzeichen der Gemeinde, waren die höchsten Bauten. Vom Turm aus, erzählte man mir, sah man Mais- und Weizenfelder, so weit das Auge reichte.
    Cousin Pepa, ein vergnügter grauhaariger Mann, zeigte uns das Haus, in dem wir wohnen sollten. Es gehörte seinem serbischen Nachbarn, der am Vorabend des Krieges nach Belgrad gegangen war und Pepa gebeten hatte, sich um seine Pflanzen zu kümmern. Das Haus war dunkel und unfertig, ein architektonisches Unding. Feuchtigkeit hatte die Staubschichten in einen unsichtbaren Sirup verwandelt, der alles überzog. Man blieb mit den Fingerspitzen daran kleben und musste ihn mit Gewalt von den Oberflächen ziehen. Im zweiten Stock war ein großer Raum mit einem Fernseher, einem angrenzenden

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