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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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um evakuiert zu werden, und dort unten die Straße umarmten.
    Zu der Zeit wohnten wir noch in der alten Wohnung in der Brčanska Malta, die bis zur Kaserne Husinska Buna führte, auf der Höhe der Kreuzung von Titova und Skojevska. Ich wachte mitten in der Nacht auf, weil ich pinkeln musste, und entdeckte meine Mutter in der dunklen Küche, wo sie mit einem Opernglas durch die geschlossenen Spitzengardinen starrte und die Militärkonvois acht Stockwerke unter uns beobachtete. Sie machte eine Zigarettenpause und gab mir die aktuellen Zahlen durch.
    »Gerade haben sie vierzig Kanonen gebracht«, flüsterte sie in der schummrigen Dunkelheit.
    »Na und?«, sagte ich. »Du solltest schlafen gehen.«
    »Geh du. Ich bin nicht müde.«
    Irgendwann im April, nachdem wir umgezogen waren und kurz bevor meine Eltern Mehmed und mich wegschickten, hatte meine Mutter zum ersten Mal Gelegenheit, sich als diejenige zu fühlen, die es von Anfang an gesagt hatte.
    Der blinde Optimismus meines Vaters war in die schlimmste Art von selbstsüchtiger Naivität umgeschlagen; er hatte den Krieg direkt vor Augen, doch die Botschaft hatte sein Gehirn noch immer nicht erreicht, oder zumindest nicht den Teil davon, der für Selbsterhaltung zuständig war. Er kam von der Arbeit nach Hause und drückte mir zuliebe meiner Mutter ein Küsschen auf die Lippen, während er aus den Schuhen stieg. Das Demonstrative seiner Zärtlichkeitsbekundung war durchschaubar, beleidigend. Ich sollte mich dadurch besser fühlen, als wäre die Familie intakt, als wüssten die beiden, was sie taten, als gäbe es keinen Grund zur Beunruhigung. Dann ging er ins Schlafzimmer, um sichumzuziehen, Mutter folgte ihm und schloss die Tür hinter sich. Ich schlich näher ran und lauschte dem Zischen und Murmeln ihrer gedämpften Unterhaltung, die stets abrupt damit endete, dass er in Jogginghose und mit maskenhaft rotem Gesicht, das nur um die zusammengepressten Lippen herum weiß war, herauskam. Er ging in die Küche, holte ein Schnapsglas und eine Flasche Sliwowitz und verzog sich ins Wohnzimmer. Sein Sessel ächzte, als er sein Gewicht hineinfallen ließ. Ich wurde aufgefordert zu schweigen, der Fernseher sprang an und flimmerte uns den ganzen Abend Schmerz und Gewalt entgegen.
    Obwohl ich merkte, dass er sich den Tatsachen verschloss, und meiner Mutter mehr und mehr glaubte, blendete auch ich einiges aus, wenn ich mit meinen Freunden zusammen war. Wir vermieden es, über Politik und Religion zu sprechen. Stattdessen zogen wir, allesamt geil und verliebt, in der Hoffnung durch die Straßen, einen Blick auf unsere »Freundinnen« zu erhaschen, die von unserer Existenz natürlich keine Ahnung hatten. Wir tranken Cola und Kaffee in überfüllten Cafés, besuchten einander, spielten blöde Computerspiele und schrammelten auf verstimmten Gitarren. Wir erzählten einander Lügengeschichten über sexuelle Erfahrungen, tauschten italienische Comics und deutsche Pornos, rissen eklige Witze und schimpften über die Schule.
    Doch als die Situation immer bedrohlicher wurde, schrumpfte die Zahl meiner Freunde. Plötzlich hatte Boban einen kranken Großvater in Pančevo, den er für eine Weile besuchen musste. Seads Familie beschloss, zu seinem Onkel nach Deutschland zu ziehen; wir feierten eine Abschiedsparty in seinem Wochenendhaus, bevor es verkauft wurde. Jaca verschwand mit ihrem Vater nach Slowenien; Tarik flog in die Türkei, und mein Freund Mile fuhr zur Hochzeit seines Cousins nach Banja Luka. Ständig flogen Flugzeuge und Helikopter über die Stadt.
    Bevor wir wussten, wie uns geschah, wurden mein Bruder und ich eilig geküsst und gedrückt und auf den Rücksitz des weißen Opel Kadett unseres Cousins Garo gepackt. Im Wagen stank es nach neuem Auto, dazu kam der beißende Geruch eines Kokosnuss-Duftbaums am Rückspiegel; ich musste würgen. Garo fuhr, seine Schwester Amela jammerte unablässig auf dem Beifahrersitz, Mehmed und ich betrachteten hinten die Landschaft, leicht verängstigt, aber auch freudig erregt, weil die meisten unserer Freunde in der Schule waren, während wir zu Verwandten nach Zagreb fuhren, bis sich die Sache ein bisschen beruhigt hatte . Für ein oder zwei Wochen, hatte mein Vater gesagt.
    Zagreb 1992. Der Häuserkomplex an der Ilica-Straße wimmelte bereits von entfernten Verwandten meines Vaters, einige von ihnen Einheimische, die meisten aber Flüchtlinge aus anderen Teilen Bosniens. Es war wie in einem Flughafenterminal, wenn gestreikt wird und die Leute

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