Scherben
Esszimmer und einer Küche. Muttersagte Pepa, dass es toll sei, und bedankte sich. Wir stellten unsere Sachen ab und gingen über die Straße zu Pepas Gartenlaube, um eine Party zu feiern.
Mehmed und ich lernten ein paar Cousins und Jungen aus der Nachbarschaft kennen, dann schlichen wir in die Erdbeeren eines Nachbarn, blieben dort sitzen und verdarben uns den Appetit aufs Abendessen. Mutter trank mehrere Gläser Riesling, und wir sahen sie ein paar Mal lachen.
Einen Monat später kannten Mehmed und ich alle Kinder aus der Nachbarschaft. Wir verbrachten unsere Tage damit, Steine in einen riesigen Teich zu werfen, der die Farbe von Milchkaffee hatte und über den die einheimischen Kinder Horrorgeschichten erzählten. Sie sagten, unter dem Wasser stünden zwei ganze Häuser, und ein Mann namens Vedran Tomašević sei darin ertrunken, nachdem er gewettet hatte, er könne etwas vom Grund heraufholen. Er war in einen Schornstein getaucht, darin steckengeblieben und gestorben. Sie nahmen uns mit zu einem deutschen Bunker aus dem zweiten Weltkrieg und erzählten Geschichten von Massenvergewaltigungen, Blutbädern, Nazigespenstern und Überdosen, zum Beweis zeigten sie auf Bierflaschen, Spritzen und benutzte Kondome. Wir glaubten. Wir hatten Zweifel. Wir dachten uns eigene haarsträubende Geschichten aus.
Wenn im Haus die Nachrichten liefen, verwandelte sich Mutter in ein Scheusal, hinterher entschuldigte sie sich, gab uns Küsschen auf die Stirn und Kleinigkeiten zu essen. Ich stellte mir vor, was Vater ganz alleine zu Hause in der Wohnung machte. Irgendwie beneidete ich ihn.
Mutter nahm sich das Haus vor und putzte, schrubbte, scheuerte, polierte, wusch, wischte und goss ganze Wannen voll mit schmutzigem, dunklem Wasser in den überwucherten Garten. Sie legte unbenutzte Holzmöbel frei und kochte sparsame, aber leckere Gerichte, in denen Mehmed und ichdann herumpickten. Sie schluchzte, wenn sie glaubte, wir würden sie nicht hören, und sang, wenn sie uns in der Nähe wusste. Sie presste sich die Faust in den Magen und stieß leise auf, zusammengekrümmt wegen ihrer zahlreichen Geschwüre. Sie schnitt sich vor dem Spiegel alle Haare ab und sah aus wie eine Klapsmühlenpatientin. Und sie benahm sich auch so, starrte mit glasigem Blick ewig an die Wand und sang geistesabwesend vor sich hin.
Vater rief hin und wieder an, erzählte von leeren Geschäften, Todesopfern, der Stimmung im Luftschutzkeller. Er sagte, er habe unseren Wellensittich fliegen lassen müssen, weil ihm das Vogelfutter ausgegangen sei. Den Hamster gäbe es noch.
Ich las und sah fern und las. Ich schlich mich nach unten und durchwühlte die Sachen unserer ahnungslosen Gastgeber, stahl ihre Bücher, ihren Nippes, die Kassetten, die sie zurückgelassen hatten. Ich wichste über ihren Zeitschriften, Familienalben und medizinischen Büchern. Ich fing Fliegen an ihren Scheiben und warf sie in riesige Spinnweben, beobachtete, wie sie versuchten, sich zu befreien. Benommen beobachtete ich die Spinnen, die sie mit ihrem Schlachterzwirn verschnürten und für später beiseitelegten. Meistens aber las ich Bücher.
Es kam der Tag, an dem Mutter fand, sie habe nichts mehr zu verlieren und könne genauso gut versuchen, sich wieder wie ein normaler Mensch zu fühlen, trotz allem. Sie machte uns Frühstücksbrote mit Honig, dazu Tee, dann zog sie ihr bestes Kleid an, malte sich die Lippen rot und die Wimpern schwarz, band sich einen Schal um, der ihre zerrupfte Frisur verbarg, und ging in die Stadt. Sie sah sich ein paar Geschäfte an, strich mit den Fingern über Stoffe, fragte, ob es die Bluse in einer neutraleren Farbe oder einer anderen Größe gab. Sie kaufte eine Modezeitschrift, setzte sich in ein Café an derEcke, bestellte einen Cappuccino und fragte den Kellner, ob er bosnische Musik habe, irgendwas von der anderen Seite der Sava. Er fand schlechten Pop und sie saß da im Schatten, blätterte die bunten Seiten durch und verhedderte sich in ihren Gedanken.
Irgendwann stieg sie auf Bier um, in der Hoffnung, es würde etwas in ihr lösen, was es auch tat, und als sie wieder nach Hause kam, war ihre Wimperntusche verschmiert, und sie erzählte uns, dass sie eine unglaubliche Vision gehabt habe, als sie dort saß, sie habe in der kühlen grünen Morgenluft oben auf einem Berg gestanden, am Rand einer Schotterstraße, direkt am Abgrund, und auf frische Wiesen und ungestümes Blattwerk geblickt. Sie beschrieb uns eine Herde bibbernder Schafe, umgeben von
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