Scherben
es 1989.
Im Winter 1994, dem Jahr der schlimmsten Knappheit, entdeckte Mustafas Großvater um drei Uhr morgens einen Mann in der Verpackungsstraße, der eines der Fließbänder auseinanderbaute; die Einzelteile konnten vielleicht noch verkauft werden. Er schlich heran, zog seine Waffe und rief dem Mann zu, er solle sich umdrehen.
Es war Salko.
Mustafas Großvaters Gesichtszüge verloren den Halt. Schweigend taumelte er aus dem Gebäude. Er ging zu seinem Wärterhäuschen und blieb dort reglos sitzen, bis der Familienerlöser mit einer Schubkarre voller Einzelteile an ihm vorbeigegangen war. Er sah ihn kleiner und kleiner werden, eine dunkle Gestalt im weißen Schnee.
So blieb er eine Weile sitzen, starrte zuerst die vom Heizkörper schuppig abblätternde Farbe, dann die verlassene staubige Spinnwebe zwischen Schreibtisch und Wand an und schließlich die Naht des kaputten Wanderstiefels seines Sohns an seinem linken Fuß, noch immer nass vom Schnee. Er schaute sich um nach dem, was richtig war.
Als er es gefunden hatte, notierte er es in seinem Buch unter der Rubrik »Ausgänge«, nahm seine schwere Jacke, faltete sie zu einem dicken Bündel und erschoss sich durch sie hindurch. Da niemand verstand, was er geschrieben hatte (es war kein klassischer Abschiedsbrief), ging die Polizei von Mord aus. Sie glaubten, Selbstmörder würden sich nicht durch einen Bauchschuss töten, weil das den Todeskampf verlängerte.
»Nach den Regeln«, lautete der Eintrag.
In der Grundschule lernte Mustafa alles über die Regeln. Sie wurden ihm größtenteils von seiner Mutter eingebläut, damit er begriff, wie gut er es hatte.
Einmal hatte er sie über seine Noten angelogen; nachdem sie beim Elternsprechtag die Wahrheit erfahren hatte, knöpfte sie ihn sich in der Küche vor und erzählte ihm von einem seiner Vorfahren, der auf den Markt gefahren war, wo ein anderer Bauer einen riesigen Kürbis zur Schau gestellt hatte. Der Bauer behauptete, sein Kürbis sei der größte, und als MustafasVorfahr erklärte, er habe in seinem Schuppen einen größeren liegen, bezichtigte ihn der Bauer der Lüge. Also fuhr er nach Hause, lud seinen Kürbis auf einen Pferdewagen, kehrte damit zum Markt zurück und ließ ihn vor Zeugen ausmessen. Als sich herausstellte, dass sein Kürbis tatsächlich größer war als der des Bauern, erstach er den Mann, weil dieser ihn als Lügner bezeichnet hatte.
Die Moral der Geschichte prallte an Mustafas schlechter Laune ab. Er sagte, es täte ihm leid und es würde nie wieder vorkommen. Seine Mutter schickte ihn zum Lernen in sein Zimmer, und er schob sich heimlich einen seiner Ninja-Romane ins Geschichtsbuch. Ninjas mochte er am liebsten, weil sie gut ausgebildetete Killer waren, denen jedes Mittel recht war, um ihre Feinde zu töten. Sie kannten keine Regeln. Sie waren nicht wie Samurai an das Bushido gebunden. Sie mussten nicht fair kämpfen.
Auszüge aus Ismet Prcićs Tagebuch
Juli 1999
Ich erkenne meine Heimatstadt nicht wieder, mati . Ich stehe vor meiner mit Graffiti bemalten Schule und vermisse das Moorpark College. Obwohl Moorpark rückwärts Kraproom heißt.
Ich sehe Vater an. Wer zum Teufel ist dieser Typ?
Ich sehe Mehmed an, er hat jetzt einen Adamsapfel, seine Stimme klingt wie vom tiefen Grund eines Fasses herauf. Ein Erwachsener, voller Zorn. Das ist das Einzige an ihm, das ich verstehe. Er gibt mir die Schuld an allem, das weiß ich.
Ich sehe dein Gesicht, mati , dein müdes, wütendes, frommes, gebrochenes, trauriges, warmes, wunderschönes Gesicht, und ich habe entsetzliche Sehnsucht nach Melissa.
Du streitest immer noch mit ihm, behauptest immer noch, er habe eine Affäre. Er erzählt immer noch überall herum, du seist geisteskrank, und du versuchst immer noch, dich umzubringen anstatt ihn. Du solltest ihm die Kehle durchschneiden, wenn er schläft. Mehmed ist auf seiner Seite. Du solltest auch ihm die Kehle durchschneiden. Ich habe keine andere Wahl, als auf deiner Seite zu sein, mati . Bitte schneide mir die Kehle durch.
Ich wünschte, ich wäre Izzy, mati . Ich wünschte, ich wäre wahnsinnig und hungrig in seinem Zimmer, wo es möglich ist, in Ruhe zu leiden.
Grüße aus dem glühend heißen Tuzla, Izzy.
(… der asmir-kult …)
1993 hatte Mutter Asmir im Verdacht, ein Päderast zu sein, der es als mein vermeintlicher Regisseur und Mentor darauf angelegt hatte, mich zu missbrauchen und dazu zu bringen, »Sachen zu machen«, indem er mir das Gehirn wusch und mich zur totalen
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