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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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von Fabrikschornsteinen und rußgesichtigen Bergarbeitern mit hochgekrempelten Ärmeln und prallen Bizepsen. Die Strahlen ihrer Helmlampen durchschnitten die Dunkelheit.
    Damals gehörte ich dem Torso-Theater an, einer Gruppe von Laiendarstellern, die im Tausch gegen Lebensmittel billige Komödien aufführte und von einem kahlköpfigen Mann geleitet wurde, den alle Brada nannten. Wir hattengerade unsere bis zur Unkenntlichkeit entstellte Fassung von Molières Die lächerlichen Preziösen aufgeführt, worin ich eine Ninja-Maske tragen und zu den Klängen von »Boom Shak-A-Lak«, das zu der Zeit sehr populär war, mit einem Nunchaku herumfuchteln durfte. Es war das erste Mal überhaupt, dass ich für etwas bezahlt wurde. Ich war fünfzehn und erhielt eine Plastiktüte mit zwei Kilo Allzweckmehl von schlechter Qualität, eine Dose Pflanzenöl, ein paar Packungen Milchpulver und drei oder vier Dosen amerikanisches Corned Beef. Mein Herz war so groß wie eine Moschee.
    Wir sprachen auch über neue Projekte, aber in den Stücken, die Brada in Erwägung zog, kamen nicht genug Figuren vor, und einige von uns wären arbeitslos geworden. Das gefiel uns nicht. Um uns zu beschwichtigen, kündigte er an, er werde das »Torso Theater« in zwei Gruppen aufteilen, die Älteren – er und fünf oder sechs seiner Freunde, allesamt erwachsene Männer mit Fabrikjobs, die hofften, ein paar Lebensmittelrationen extra abzustauben, indem sie sich zum Affen machten – und uns Jüngere, und dass er einen Regisseur gefunden habe, der bereit sei, eine Aufführung mit uns einzustudieren.
    Auftritt Asmir: ein Typ in Trainingshose und labbrigem Unterhemd, auf dem Arm Bücher und Ordner. Er fing schon im Türrahmen an zu reden. Plötzlich war Energie im Auditorium, als würde etwas zerplatzen. Kurzgeschorener Schädel, kantige Wangenknochen, schiefe Augenbrauen, die aussahen wie im Hintergrund fliegende Möwen auf Zeichnungen von Laien, unersättliche Kinderaugen. Das war er.
    Schon bald sollte ich erfahren, dass Lebensmittel nicht der Grund waren, warum man Theater spielte.
    Bei den Anhörproben mussten wir sprechen und uns bewegen, singen und tanzen und Rechtecke in sein dickes Kunstbuch zeichnen. Ich redete und bewegte mich ganz gut, sang einen Rocksong katastrophal und tanzte wie ein Steinzeitmensch. Was die Rechtecke anging – wir sollten uns ein Gemälde aussuchen, das uns gefiel, es mit Bleistiftstrichen in drei Teile aufteilen, die Teile nummerieren und damit eine Art Geschichte erzählen. Ich entschied mich für einen monochromatischen Druck, auf dem das Jesuskind mit Heiligenschein in den Armen seiner Mutter und eine gen Himmel erhobene Faust zu sehen waren.
    Eine Woche später sollten wir mit einem Rückruf rechnen, aber niemand rief an. Jelena, die ebenfalls zur Truppe gehörte, erzählte mir in der Schule, Asmir habe ihr über ihre Mutter ausrichten lassen, sie solle am Sonntag um fünf Uhr nachmittags vorbeikommen. Sie war erstaunt, dass ich keinen Anruf erhalten hatte. Um ehrlich zu sein, war ich erstaunt, dass sie einen bekommen hatte. Sie war zwar hübsch, aber ihre Bühnenpräsenz war bestenfalls zerstreut, und sie spielte alles mit großer Zurückhaltung, ging nicht aus sich heraus. Erst dachte ich, Asmir habe meine Nummer verloren, doch als der Sonntag immer näher rückte, wurde mir klar, dass ich es nicht geschafft hatte. Und das tat weh. Es tat mir so sehr weh, dass ich wütend wurde und ihn in Gedanken beschimpfte, ihm erklärte, sein verfluchtes Vorsprechen sei was für Hirnamputierte und ich wolle sowieso nicht mitspielen in seinem blöden Stück. Die Sache war nur: Ich wollte. Erst recht, weil ich es nicht geschafft hatte.
    Ungefähr um halb fünf überschwemmte mich das träge, ruhige Sonntagsgefühl wie Raserei, glättete mir die Stirn und zügelte meine Gedanken. Es geschah, als ich meinem Hamster zusah, der unermüdlich sein unglückseliges Rad drehte. Das Beste würde sein, einfach zur Probe zu erscheinen und mich dumm zu stellen. Ich zog meine Reeboks an. Meine Mutter saß im Wohnzimmer, eine Porzellanskulptur mit dem Titel »Die Wartende«. Sie rauchte eine ihrer täglichenfünf Zigaretten, umgeben von einer unbewegten Qualmwolke. Ich verabschiedete mich knapp, ich hatte keine Lust zu erklären, wohin ich ging und wie lange ich dort bleiben würde.
    »Was machst du denn hier?«, fragte mich Asmir um fünf. Das Parkett quietschte unter seinen nackten Füßen. Alle anderen waren verstummt, sie schauten entweder weg

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