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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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Hinterhalt anzugreifen. Sie vergewaltigten und ermordeten die Langsamen und verjagten die Flinken. Die Häuser wurden geplündert. Der verheiratete Bruder von Mustafas Großvater, der zehn Männer mit großen schwarzen Wollmützen und Patronengürteln den Hügel heraufmarschieren sah, spaltete seiner Frau den Schädel mit einer Axt. Er konnte nicht riskieren, dass sie vergewaltigt wurde. Als sie die Tür aufbrachen, holte er erneut aus und schlug dem ersten Plünderer die Axt durch das linke Ohr und das Schlüsselbein, das wie ein Bleistift brach, in den keuchenden Brustkorb. Die anderen schossen ihm in die Beine und nahmen sich alle Zeit der Welt, ihm Kreuze ins Fleisch zu schneiden. Sie rissen ihm die Eingeweide heraus, dann verbrannten sie ihn neben einer alten Ottomane aus Holz, dem einzigen Möbelstück, das er besaß.
    Die Eltern und seine anderen Geschwister gehörten zu den Flinken. Als sie zwei Tage später zu ihrem Besitz zurückkehrten, schwelte er noch im Morgenregen. Krähen hopsten seitwärts durch die feuchte Asche.
    Da er seine Behausung verloren hatte, heiratete Mustafas Großvater in eine Bauersfamilie aus GornjaTuzla ein und ließ seine Heimat hinter sich. Dies sollte sich als glückliche Entscheidung herausstellen. 1945, als er gerade seinen Abschluss machte, merkten die bärtigen Männer von vor vier Jahren, dass die Kommunisten dabei waren, den Krieg zu gewinnen. Sie rasierten sich die Bärte ab, ersetzten ihre nationalistischen Embleme durch rote Sterne und schlossen sich Titos Partisanen an, um Međaš erneut zu plündern, unter einem anderen Namen zwar, aber aus den mehr oder weniger selben Gründen. Diesmal waren die Nalićs nicht so flink.
    Nach dem Krieg wurde ein neues Land geboren, voller Blut und verbunden durch eine neue ideologische Plazenta. Die Menschen, die zuvor der Glaube getrennt hatte, wurden nun zur Einheit in Gottlosigkeit gezwungen. Das neue Regime trieb der hungernden Bevölkerung ihren Gott durch Drohungen, Erpressung und Überrumpelung aus. Es war die denkbar schlechteste Zeit und der schlechteste Ort für einen Imam.
    Religiöse Einrichtungen wurden geschlossen oder streng überwacht, und Mustafas Großvater war arbeitslos. Er wohnte mit seiner Frau und drei quicklebendigen Kindern in einem Haus, das wie ein feuchter Pappkarton aussah. Sie überlebten dank der vereinzelten Spenden insgeheim frommer Dorfbewohner und dem Einfallsreichtum seiner Frau. Einmal wurde ihm eine Stelle als Sekretär in einer Grundschule angeboten, und er nahm freudig an. Als ihn aber ein Kollege aufforderte, mit Sliwowitz anzustoßen, lehnte er ab und begründete dies mit seinem Glauben. Er wurde auf der Stelle als Feind der Partei gefeuert. Von da an standen gelegentlich mitten in der Nacht kräftig gebaute Männer vor seiner Tür und schleppten ihn im Schlafanzug in eine dunkle Betonzelle, wo sie ihm stundenlang Wasser auf den Kopf tropften. Morgens ließen sie ihn ohne ein Wort der Erklärung wieder gehen.
    Aber irgendwann hat jeder einmal Glück. Mustafas Großvater wurde 1951 von einem seiner Nachbarn, der in der neuen Putzmittelfabrik in Tuzla arbeitete, als Wachmann eingestellt. Der Mann ließ seinen Genossen Chefs gegenüber unerwähnt, dass der klapperdürre, gespensterhafte Kerl kein stolzer Vertreter des jugoslawischen Proletariats, sondern ein gottesfürchtiger Mann war. Das war so mutig, dass es Mustafas Großvater Tränen in die Augen trieb. Der Nachbar hieß Salko, und sein Name wurde im Hause der Nalićs nur mit größter Ehrfurcht ausgesprochen. Die Familie betrachtete ihn als ihren Erlöser.
    Die Aufgabe bestand darin, in einem winzigen Häuschen vor dem Gebäude zu sitzen und die Namen und Identifikationsnummern eines jeden zu notieren, der die Fabrik betrat oder verließ, dazu die Zeit. Das war die Tagesschicht. Nachts ging er alle halbe Stunde mit einer Handfeuerwaffe das Gelände ab, um sich zu vergewissern, dass niemand Putzmittel stahl. Er nahm seine Aufgabe ernst und ging seinen Pflichten trotz ihrer Eintönigkeit systematisch und mit Hingabe nach.
    Und es kamen bessere Zeiten. Die Fabrik war erfolgreich und entwickelte sich zu einem in ganz Jugoslawien einzigartigen chemischen Industriekomplex. Während die Luft der Region immer stärker verschmutzte, stiegen die Löhne der Arbeiter. Innerhalb von zehn Jahren kletterte die Krebsrate auf Rekordhöhen, und Mustafas Großvater hatte genug Geld zusammen, umein Haus zu bauen, bei dessen Anblick seinem Vater die Luft

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