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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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oder suchten Phantomgegenstände ganz unten in ihren Rucksäcken. »Hab ich dich angerufen?«
    »Jelena hat gesagt, heute ist wieder Probe. Ich hab nicht gewusst …« Ich stellte mich blöd. Er stand da und schaute mich an, durchbohrte mich mit seinem Blick. Ich hielt ihm stand und klappte den Mund auf und zu wie ein Barsch im Gras.
    »Na ja, meinetwegen kannst du zusehen«, sagte er und bat alle außer mir auf die Bühne. Ich musste grinsen. Ich musste grinsen, während mir etwas die Speiseröhre hinauf und in den Rachen stieg, an meiner wunden Schleimhaut kratzte, mir den Atem nahm, mich vernichtete.
    Dann stellte sich aber heraus, dass der Junge, den Asmir für die Rolle des Vaters in seinem Stück auserkoren hatte, einen leichten Sprachfehler hatte, den er beim Vorsprechen gekonnt überspielt hatte, dass er außerdem im Vergleich zu seiner Rollen-Frau (gespielt von Jelena) zu klein war und obendrein keine Kritik vertragen konnte. Er riss einmal zu oft die Klappe auf, und Asmir schickte ihn in die Wüste. So bekam ich meine zweite Chance.
    Asmir war unorthodox und hatte eine Vision. Genau genommen war er irre. Viele Leute, darunter auch Jelena, kamen mit seinem Irresein nicht klar und stiegen aus. Er sagte Sachen wie:
    »Scheiß auf Musicals! Scheiß auf die toten, kalten Klassiker und ihre toten, kalten, klassischen Worte. Scheiß aufdie Memmen von modernen Meistern und ihr Bedürfnis nach einem gesicherten Lebensunterhalt, Essen und einem Dach über dem Kopf. Wir müssen das Theater verändern! Wir sollten durchdrehen und improvisieren. Scheiß auf Unterhaltung! Überlasst das dem Kino. Wir sollten die Wahrheit zeigen in unserer ganzen fehlerhaften Wahrnehmung. Scheiß auf Ästhetik! Hübsch ist eine Lüge. Wir sollten nicht kürzen, überarbeiten, umschreiben. Wir sollten rasen und ausschweifen. Die Wahrheit ist chaotisch, und sie ergibt keinen Sinn.«
    Er sagte, Theater habe nichts mit Demokratie zu tun, und wenn es ein Theater geben solle, das die Mühe wert sei, dann könne es von Diktaturen einiges lernen.
    Einmal unterbrach er die Probe, damit das Mädchen, das für Jelena eingesprungen war, lernte, wie man schrie. Sie sollte eine stumme Mutter spielen, die an der entscheidenden Stelle des Stücks einen ohrenbetäubenden Schrei ausstößt, aber sie bekam es einfach nicht hin. Asmir stellte sie ganz alleine ins Scheinwerferlicht, und alle sahen sie schweigend an, bis der Druck so unermesslich schwer auf ihr lastete und sie einen gellenden Schrei des Hasses und der Frustration ausstieß. Das war das Echteste, was ich je gehört habe. Es ging mir an die Eingeweide.
    Sie brauchte eine Stunde, bis sie so weit war. Später wurde mir bewusst, dass diese Stunde, in der ich zugesehen hatte, wie sie da stand, interessanter war als jedes Theaterstück. So roh. Am Nacktbadestrand der Emotionen. Das allmähliche Anschwellen von Wahrheit in einem Menschen, seine Unfähigkeit, sie noch länger zu unterdrücken, und ihre orgastische Entladung, das Fallen aller Hemmungen. Das war Theater, dachte ich.
    In Asmirs Königreich galten Proben als heilig, jeden Tag vier Stunden, ob es regnete oder die Sonne schien, ob aus demHinterhalt geschossen wurde oder Bomben fielen. Sie fingen mit dem rituellen Ausziehen der Schuhe an, dann begaben wir uns in die kollektive Meditation, wobei alle mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lagen, die Münder teilweise geöffnet, die Handflächen auf dem Boden. Aus dem Kassettenrekorder kam meist Vangelis. Darauf folgten Bewegungsübungen, dann welche für die Stimme, dann ging es um Charaktere, dann um das Stück. Zum Schluss spazierten wir in die Stadt auf einen Kaffee, trafen Asmirs besten Freund Bokal und redeten.
    Bokal behauptete, alles Mögliche zu sein: Künstler, Model, Schildermaler, Schauspieler. Er behauptete, er arbeite an einem Buch mit dem Titel Das Wesen des Widders , das eines Tages alle Bestsellerlisten anführen würde. Er behauptete, er habe die schlimmsten Ganoven und Fußballhooligans von Tuzla verprügelt. Er behauptete, er habe aufgrund einer schlimmen Infektion, die er sich in den feuchten Schützengräben an der bosnischen Front geholt habe, eine Niere verloren. Zum Beweis zeigte er uns seine Narbe.
    So ging das eine Weile: Asmir herrschte, Bokal stellte Behauptungen auf. Ich hielt meinen Mund und hatte zum ersten Mal einen Platz gefunden, an den ich gehörte.
    Meine Rolle, Vater Karamasow, forderte mir einiges an Verwandlungsfähigkeit ab. Sie verlangte

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