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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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Unterwerfung zwang. Tatsächlich gab es nichts, was diese Annahme unterstützt hätte, aber meine Mutter war niemand, der Beweise brauchte. Sie glaubte, sie habe ein besonderes Gespür für Gefahren, die ihren Kindern drohten, und hielt allgemeine Vorurteile für mütterliche Intuition. Der bloße Verdacht genügte ihr als Beleg dafür, dass etwas nicht stimmte. Das war ihre Wo-Rauch-ist-ist-auch-Feuer-Logik, wobei der Rauch darin bestand, dass ich Theater spielte, auch nach Ende der Proben noch Zeit mit dem Regisseur verbrachte, Cafés mit ihm besuchte, Bücher las, die er mir empfahl und überhaupt Stein und Bein auf ihn schwor. Zugegeben, es hatte schon etwas Kultisches: die Theatergruppe, Asmirs Status als künstlerischer Leiter, unser blindes Vertrauen und unsere Bereitschaft, extrem viel im Namen der Kunst zu riskieren. Aber es war nicht das, was meine Mutter sich ausmalte.
    Ich sehe sie mit übergeschlagenen Beinen dasitzen und auf meine Rückkehr von der Probe warten, die Zigarette vor dem Gesicht, ihr glasiger Blick auf die Bilder fixiert, die sich ihrer Gedanken bemächtigten, heftig den Kopf schüttelnd, wenn diese zu drastisch werden. Ich erinnere mich, dass ich mich damals über die extremen Resultate ihrer Hausarbeitwunderte. Erstaunlich, wie poliert Möbel sein können, wenn der Polierer beim Polieren mit den Gedanken woanders war. Ich meine auch, mich an ein eigentümliches Beben zu erinnern, das sie überkam, wenn sie sich nach den Proben erkundigte, wer dieser Asmir sei und wann sie ihn endlich kennenlernen dürfe. Arme Frau.
    Wir probten im »Haus der Armee«.
    Um zu verstehen, was das bedeutet, muss man mit der jugoslawischen Spielart des Kommunismus vertraut sein. Nehmen wir zum Beispiel Architekten. Sagen wir mal, es gilt ein öffentliches Gebäude zu bauen. Im Kommunismus baut nicht der beste Architekt das Gebäude, sondern der in der Partei Ranghöchste, der dann auch noch Architekt ist. Um es in der Partei zu etwas zu bringen, muss man vielen Leuten in den Arsch kriechen, in allen möglichen schwachsinnigen Komitees sitzen und über Sachen beraten, von denen man keine Ahnung hat, sich jahrelang langweilige Reden anhören, jahrelang langweilige Reden schreiben und halten, und sich jeden Abend mit hohen Tieren betrinken, um zu beweisen, dass man an der Gemeinschaft und ihrem sozialen Leben teilnimmt. Wenn man das alles macht, ist man zu achtundneunzig Prozent Bürokrat und zu zwei Prozent Architekt. Deshalb sehen die öffentlichen Gebäude auf dem Balkan alle aus wie Aktenschränke. Und sie heißen fast alle Haus (Haus der Gesundheit, Haus der Jugend, Haus der Arbeiter, Haus der Armee), um einen Anklang von Behaglichkeit heraufzubeschwören, der über die tatsächliche Seelenlosigkeit hinwegtäuscht. Wenn man’s im Mund hat, schmeckt’s scheiße, aber offiziell heißt es Eiskrem.
    Wir probten also im Haus der Armee.
    Vor dem Haus der Armee stand eine olivenfarbene Kanone neben einem gepflegten Tulpenbeet und einem grundsätzlich gelangweilten bewaffneten Wachmann, der manchmalin Begleitung eines deutschen Schäferhundes war, manchmal nicht. Zu Beginn des Krieges wurde die Kanone an die Front gebracht, Unkraut machte den Tulpen den Garaus, auch der Hund verschwand, nur der Wachmann blieb und trug sein Gesicht wie eine Gasmaske.
    Im Haus der Armee war die Luft grau, die Stühle pfiffen auf dem letzten Loch, die Aschenbecher quollen über, die Decken fielen einem fast auf den Kopf, die Gänge waren lang, die Türen massiv und ockerfarben, die jungen Männer uniformiert und die Schatten auf ihren Gesichtern heilig. Der geflieste Boden wirkte schmutzig, trotzdem ständig angehende Soldaten auf Knien und mit Zahnbürsten darauf rumrutschten. Die Wände waren verraucht. Die Kunst war nicht der Rede wert, aber protzig gerahmt. Dazwischen befanden sich akkurate weiße Rechtecke, wo einst die unvermeidlichen Porträts von Marschall Tito hingen, der auf die Armee herabschaute, als sie noch die Armee aller Jugoslawen war, bevor sie zur Armee der Serben wurde, besser bekannt als der Feind.
    Den Hauptgang runter, durch die dritte Tür, direkt hinter den Klos, befand sich der Hörsaal mit den angeschraubten Holzklappstühlen, dem leicht erhöhten Bühnenportal und dem muffigen Samtvorhang. Die Bühne bestand aus wackligem Parkett, das jahrzehntelang von Politikerschuhen, Militärkapellen und reisenden Folkloretänzern malträtiert worden war. Als Kulisse diente ein vom letzten Regime zurückgelassenes Bild

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