Scherben
Schluss, dass du dir ihre Stimme nicht nur eingebildet hast. Sie klang viel zu echt. Das ist nicht mögl
WUMM!
ich … Ich? … Nicht möglich … Was genau? … Du vergisst, woran du gerade gedacht hast. Du bist dir nicht sicher. Das Baby schreit weiter. Es kommt dir vor, als wärst du eben erst aufgewacht, aber du weißt, dass das nicht stimmt. Jemand berührt dich an der Schulter. Du drehst dich um. Es ist dein Vater. Er stellt dir eine Frage. Du sagst: »Ja.«
WUMM!
Du versuchst dich an die Frage zu erinnern. »Wie war die Frage noch mal?«, flüsterst du leise vor dich hin. Du kannst dich nicht erinnern. Du lehnst dich an die Wand hinter dir. Plötzlich fühlst du dich bei der Aussicht, die Tage in diesem Raum verbringen zu müssen
WUMM!
Du kannst dich an nichts erinnern. Du presst deinen Körper gegen die Wand …
WUMM!
… die Wand ist rau …
WUMM!
… nichts …
WUMMS!
(… nach den regeln …)
Mustafas Großvater wurde in einem Schuppen geboren. Der Schuppen stand direkt neben einem winzigen, verfallenen Haus, in dem seine Verwandten saßen und betrübt schwiegen. Ihnen graute vor dem jüngsten Zuwachs der bereits viel zu großen Familie Nalić. Der Raum war wegen eines defekten Schornsteins mit stechendem Rauch erfüllt, und ihre Bäuche knurrten vor Hunger. Die erste Milch aus der Brust der Mutter war spärlich. Als sie ihn ins Haus brachte, sahen ihn die anderen an und erkannten keinen Sohn oder Bruder, sondern einen Feind.
Eines der beiden Zimmer war größer als das andere; es diente als Küche, als Wohnzimmer, als Esszimmer, als Kinderzimmer und in der Nacht als Schlafzimmer. Die Eltern von Mustafas Großvater schliefen in dem anderen Raum, es sei denn, sie hatten Gäste, dann gaben sie ihre Ungestörtheit auf und zwängten sich zwischen die Kinder. Im Hof gab es ein einziges Plumpsklo, nicht weit vom Schuppen. Zwei weitere Brüder übernachteten im Schuppen, außer im Winter, dann zwängten auch sie sich zwischen die Kinder. Einer der älteren Brüder hatte kürzlich geheiratet und sich ein eigenes kleines verfallenes Haus gesucht.
Der Vater war ein frommer Maurer und Feierabend-Bauer, der rund um die Uhr Ruhe verlangte. Er gebot über die Familie entsprechend den ungeschriebenenRegeln seiner eigenen Eltern, denen zufolge Ältere grundsätzlich Vorrechte genossen, man nicht ungefragt sprechen durfte, höflich zu sein hatte bis zur Kriecherei, immer die Wahrheit sagen musste, selbst wenn es den eigenen Tod bedeutete, niemals lächeln durfte, weil andere vielleicht traurig waren, niemals weinen durfte, weil andere vielleicht fröhlich waren, die eigene Ehre innerhalb der Gemeinde mit allen Mitteln bewahren und den Gästen das beste Essen aufheben musste, auch wenn das bedeutete, dass man eine Glasscheibe über eine Handvoll geriebenen Käse legen musste, damit die kleinsten Kinder dachten, sie würden ihn essen, obwohl sie nur mit trockenem Brot an das Glas stippten. Die geringsten Verstöße wurden mit Prügel bestraft.
Die Mutter sprach kaum, ging zehn Schritte hinter ihrem Ehemann und wandte sich trotz ihres Schleiers zum Weinen ab.
Anders als seine Geschwister war Mustafas Großvater gut in der Schule. Die Rücken unzähliger Bücher brachen, als sein Vater sie an die Wände des Zimmers schleuderte, weil er es nicht ertrug, dass sich jemand in eine andere Welt vertiefte, während er unter der harten Wirklichkeit litt. Oft riss er seinem Sohn die vergilbten Schriften aus den Händen und warf sie ins Feuer des Ofens.
So ging es weiter, bis ihm der Imam der Moschee, der angesehenste Mann im Ort, zu seinem klugen Sohn gratulierte und sagte, es wäre eine Schande, wenn der Junge seine Studien nicht weiterverfolgte. Die Tinte des Gelehrten ist wertvoller als das Blut des Märtyrers , verkündete er vor der versammelten Gemeinde. Die Äußerung hätte keinerlei Auswirkungen auf Mustafas Urgroßvaters Entscheidung gehabt, seinen Sohnzum Maurer zu machen, wie er selbst einer war, hätte er sie nicht ausgerechnet nach dem Freitagsgebet im Beisein einflussreicher Dorfbewohner getätigt. Damit wurde es zu einer sozialen Verpflichtung. Widerwillig und mit sehr wenig Geld wurde Mustafas Großvater also im Alter von achtzehn Jahren in eine madrasa in Tuzla geschickt, wo er zum Imam ausgebildet werden sollte.
Ein weiterer Weltkrieg brach aus, und einige bärtige Männer orthodox-christlichen Glaubens nutzten die gesetzlosen Zeiten, um die Muslime von Međaš eines Tages im Morgengrauen aus dem
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