Scherben
weggeblieben wäre. Er füllte es mit Büchern und Kindern. Bei der Geburt jedes Einzelnen schwor er sich, nicht so zu sein wie sein Vater, mit der Zeit zu gehen und alles besser zu machen, den Kindern zuliebe, doch die überbrachten Lebensweisen, die Regeln, steckten ihm zu sehr in Fleisch und Blut, als dass er sie durch bloße Willensanstrengung hätte außer Kraft setzen können. Es war, als wollte man die Dunkelheit aussperren, indem man die Fenster mit Brettern vernagelt.
Sein Nachwuchs entpuppte sich als intelligent, ehrlich und wohlerzogen, aber auch als duldsam, stumm und unterwürfig gegenüber Älteren, selbst wenn diese sturzdumm waren. Alle seine Kinder hatten unnachgiebig aufeinander gepresste Lippen und vor Glut feuchte Augen. Zorn brodelte in ihren Bäuchen.
Seine Frau war es leid, darauf zu warten, dass er Strom in den Schuppen legte, den sie im Sommer als Küche benutzte, also legte sie ihn kurzerhand selbst, ohne das je gelernt zu haben, allein aus ihrer Erinnerung daran, wie die Elektriker es im Haus gemacht hatten. Als ihr erster Sohn seinen Wehrdienst leistete, brachte sie sich selbst lesen und schreiben bei, damit sie ihm Briefe schicken konnte. Ihre Schrift war krakelig, ihre Grammatik zum Totlachen.
1983 verschwanden Kisten mit Putzmitteln aus den Lagern der Fabrik. Das ging einige Wochen so, bis Mustafas Großvater dämmerte, dass wahrscheinlich einer seiner Kollegen dahintersteckte, und zwar einer, der wusste, wie eisern er sich an seine halbstündigen Rundgänge hielt. Tief enttäuscht darüber, dass jemand so hinterhältig sein konnte, zwang er sich, dieReihenfolge, in der er die Gebäude prüfte, zu ändern, und erwischte eines Nachts einen Arbeiter namens Sead dabei, wie er ein kleines Vermögen in Form von Möbelpolitur in einen klapprigen weißen Transporter lud. Als er ihn aufhalten wollte, schlug ihn der junge Mann nieder, nannte ihnen einen alten Sack, spazierte davon und ließ lachend den Wagen an. Als er losfuhr, zog Mustafas Großvater zum ersten Mal in seinem Leben eine Waffe. Er rannte neben dem Fahrzeug her, zielte konzentriert und feuerte eine einzige Kugel durch das Seitenfenster des Transporters in Seads Hals. Er war auf der Stelle tot.
Es kam zum Verfahren. Nicht schuldig.
Als er wieder zur Arbeit erschien, betrachteten ihn seine Kollegen mit einer Mischung aus Respekt und Angst. Selbst die höheren Tiere unter ihnen, die ihn sonst, als sie ihre Namen morgens eintrugen, kaum angesehen hatten, lächelten jetzt und sagten hallo. Tupften sich besorgt mit ihren Taschentüchern über die Stirn. Ihm wurde zu seiner Tüchtigkeit gratuliert, und er bekam eine kleine Auszeichnung, weil er das Eigentum der Arbeiter beschützt und zur Brüderlichkeit und Einheit der Nationen der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien beigetragen hatte. Hinter seinem Rücken lachten die Leute über seine Strenge. Aber nur hinter seinem Rücken.
Von da an war er besessen vom Tod. Er zog unters Dach und übte sich nächtelang unter einer einzigen nackten Glühbirne in religiöser arabischer Kalligraphie. Einzuschlafen und nicht schreiend wieder aufzuwachen war ein Erfolg; seine Augen versanken immer tiefer in den dunklen Kratern seines Schädels, aus dem sie rot und intensiv wie Lava hervorglühten.Seine Venen schienen nicht unter, sondern auf seiner Haut zu kleben. Seine Zähne lockerten sich und kippten nach rechts. Sein Haar wurde dünner. Er sprach Leute an, die gar nicht da waren, und oft gelang es ihm nicht, einfache Fragen zu beantworten, ohne endlos über das Schicksal der Menschheit zu lamentieren und darüber, wie häufig man am Tag an den Tod denken musste, um in den Himmel zu kommen.
1992, ein weiterer Krieg. Uralte Missgunst, die im Verborgenen geschlummert hatte, kam mit voller Wucht zurück, und neue Plünderer, deren Bärte erst noch wachsen mussten, warfen ihre roten Sterne weg und hefteten sich stattdessen die hasserfüllten Embleme ihrer Väter an die Mantelaufschläge. Da kamen sie wieder, mit schweren Stiefeln und Beschimpfungen.
Die Fabrik wurde dichtgemacht, und die Arbeiter an die Front geschickt. Einige von ihnen waren zu alt und durften ihren Pflichten praktisch ohne Entschädigung weiter nachgehen, um das Gefühl zu haben, das Alltagsleben setze sich ungebrochen fort. Also schritt Mustafas Großvater die leer stehenden Fabrikgebäude ab, vergewisserte sich, dass sich keine Gauner dort zu schaffen machten, und schloss die rostigen Tore auf und ab, als wäre
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