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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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Geradlinigkeit, Direktheit, Körperbeherrschung, soldatisches Gebaren, rigide Disziplin und alles Mögliche, das mir so gar nicht entsprach. Karamasow war ein Mann, der Schützengräben in den Dung des Lebens grub, ein paar falsche Entscheidungen traf und dort endete, wo er angefangen hatte. Aus Angst, sich lächerlich zu machen, redete er sich ein, sein Weg sei nicht nur legitim, sondern der einzige, und er ging ihn immer und immer wieder.
    Im Stück musste ich ununterbrochen um die Bühne marschieren, bis zu dem entscheidenen Punkt, an dem Karamasow eine Erleuchtung hat, merkt, dass er im Kreis läuft (genau genommen im Quadrat) und dass er etwas ändern muss, woraufhin er kehrtmacht und mit derselben Überzeugung wie zuvor in entgegengesetzter Richtung weitermarschiert.
    Nachdem ich jahrelang klobige Schulbücher herumgeschleppt und auf Bordsteinen und Parkbänken, Grabsteinen und Treppen herumgehangen hatte, war meine Körperhaltung die eines Hemds auf einer Hutablage. Während der Proben ließ mich Asmir daher verschiedene Dinge herumtragen, um meine Schultern auszutarieren – eine Zimmerpflanze, einen Kassettenrekorder. Einen Holzrahmen.
    Ich marschierte und marschierte. Im Quadrat. Jeden Tag. Ich lernte, gerade zu gehen. Ich lernte, die Ecken nicht abzukürzen. Ich atmete mit aufeinandergepressten Lippen durch die Nase. Ich stampfte laut. Meine Stimme trug weit. Ich kam in Form. Schon bald marschierte Karamasow statt meiner, festgefahren in seinen Gewohnheiten, angespannt wie eine Basssaite, während sich vor seinem geistigen Auge der rote Teppich über die verwesenden Kadaver seiner Feinde senkte und die Bewunderer sich versammelten, kleine Flaggen schwenkten, lächelten und sangen, und er wusste, dass er der Einzige war.
    Am Morgen der Premiere wurde bombardiert. Ich wachte von dem Gedonner auf und fragte mich, ob die Aufführung stattfinden würde. Dann hörte ich Schritte im Flur und schloss die Augen. Ich hatte keine Lust zu reden. Mutter machte die Tür auf, zählte ihre Kinder und setzte sich wieder an ihre Patiencen, zog sich zurück auf den gewohnten Lauf der Dinge. Sirenen schrillten ihre Warnungen mehr als zehn Sekunden zu spät. Ich machte die Augen auf und sah meinen Bruder, der mit offenem Mund alles verschlief.
    Später rief Asmir an. The show must go on. Er sagte, wirwürden uns vor dem bosnischen Nationaltheater treffen und sollten was zu essen mitbringen. Ich war der Erste, den er anrief. Mutter bedachte meine Aufgeregtheit mit besorgten Seitenblicken.
    Ich stand da, und in einem Moment würde es losgehen. Daran erinnere ich mich. Ich hatte das Kostüm an, stand in den Kulissen und wartete darauf, dass das Licht im Zuschauerraum gedämpft wurde. Ich konnte meine Mutter in der zweiten Reihe sehen. Die Stiefel quetschten mir die Zehen wie in einem Schraubstock, dabei war ich noch gar nicht losmarschiert. Luft drang in mich ein und kam in kurzen Schüben aus mir heraus, ich hatte Krämpfe, als würde ich erfrieren. Das Publikum rumorte uninterpretierbar, unheilvoll. Geister umschwirrten die alten Bühnenscheinwerfer, wirbelten Staub auf, sausten mir den Rücken hinunter, wisperten Obszönitäten, ermutigten mich. Ich ballte mehrfach die Hände zu Fäusten, klammerte mich mit ganzer Kraft an ein imaginäres Seil und löste anschließend die Finger, als wollte ich aufgeben. Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich schüttelte den Kopf. Der ganze Scheiß, den man macht, um die Schmetterlinge loszuwerden.
    Dann wurde das Licht im Zuschauerraum gedämpft, dann ging es wieder an, und alles war vorbei. Applaus prasselte wie Regen auf einem Sonnendach, dazu Buhrufe, die wie Vögel klangen, die mit anderen Vögeln kämpfen, und ich verbeugte mich nicht, sondern musste ein ruhiges Fleckchen suchen, weil mir die Welt plötzlich zu viel war, so wie ich dort schweißgebadet und keuchend in ihr existierte. Ich wusste nicht, dass sich Zeit so verdichten konnte, dass sie so wahrhaftig sein konnte, und dass schon ein kleiner Teil davon so umfangen, so überwältigen konnte. Mein Damals war so dicht, so intensiv, wie mein Jetzt flüchtig ist. Damals war ich mir meiner selbst und der Gegenwart auf eine Weisebewusst, wie ich es auch jetzt gerne wäre, anstatt jetzt über damals zu schreiben; es ist erbärmlich.
    Ein paar Tage später sahen wir uns die Aufnahme an. In dem Video marschierte dieser … Mensch auf der Bühne herum, seine Füße stampften auf den Boden, als hätte er mit Mutter Erde noch ein Hühnchen zu

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