Scherben
Fluss summte seinen kalten Blues zwischen den Ufermauern, die Gebäude kauerten sich zusammen, wie Bauern in einem sommerlichen Hagelsturm wichen sie vor der seltenen Verheerung zurück, die in jüngster Zeit ach so häufig geworden war. Davon unberührt, starrte ich in die Richtung, aus der Asja kommen musste, und versuchte zu erahnen, welcher der weit entfernten beweglichen Punkte sich in ihre herannahende Gestalt verwandeln würde. Jeder der kleinen Farbkleckse versetzte mich in Aufregung, während ich sie wachsen sah wie Zellen: erst langsam, aus einer blauen Zelle wurden zwei blaue Zellen, dann vier, dann acht, und nach einer Weile wurde der blaue Klecks zu einer Windjacke mit aufgeblasenen kleinen Armen, noch immer kopflos im Schnee, doch dann schoss der Kopf hervor wie eine Knospe, ein kleiner schwarzer Tupfer auf dem Blau, die kleinen Beinchen verbanden den blauen Klecks mit dem Boden, und die Kinderzeichnung kam auf mich zu, verwandelte sich in ein impressionistisches Gemälde, dann in ein realistisches, bis sie schließlich zu einer Szene aus einem osteuropäischenSpielfilm der sozialistisch-realistischen Schule wurde und ich mir am liebsten die Kugel gegeben hätte.
Ich wartete auf die Flecken, zitterte und verzweifelte, wenn ich sah, dass sie sich in einen bärtigen Mann verwandelten, eine Großmutter, einen Geisteskranken. Ihre Gesichter verursachten mir körperliche Schmerzen, weil es nicht ihr Gesicht war. Ich schluckte meinen Schmerz, zählte weiter Schritte, wählte wieder einen Punkt am Horizont, beobachtete, wie er zu einem Fremden wurde, und dann erneut von vorne.
Als sie endlich aus einem der Flecken heraustrat, übrigens absolut pünktlich (die Glocken der katholischen Kirche auf der anderen Straßenseite läuteten und läuteten), befanden sich meine Eingeweide in heller Aufregung, und dann passierte etwas: Mich überkam eine wundersame Ruhe. Es war, als hätte etwas, ein männliches Etwas, meinen inneren Kritiker ausgeschaltet, mir eine Ohrfeige verpasst, mich aufgerüttelt, mich am Kragen gepackt und mir Haltung eingebläut, kameradschaftliche Worte der Ermutigung geflüstert und mich schließlich mit einem Klaps auf den Hintern in die Schlacht geschickt.
Derart auf Vordermann gebracht, wartete ich reglos, während sie watschelnd wie ein Kleinkind in einer schwarzen Winterjacke – die sich um sie herum aufbauschte wie ihre persönliche Wolke – auf mich zukam und mit jedem ihrer Schrittchen detailreicher und schöner wurde.
»Hi«, sagte sie und lächelte breit. Sie kniff die Augen zusammen gegen den Wind, und eine Strähne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, wehte quer über ihr Gesicht, teilte es in zwei ungleiche Hälften. Sie neigte ihren Kopf zur Seite, doch der Wind drückte ihr die Strähne fest ins Gesicht, und Asja griff in den Himmel, um ihre rechte Hand aus dem übergroßen Ärmel zu befreien, führte sie an die Stirn und strich das abtrünnige Haar vorsichtig zurück.
Ich erwiderte die Begrüßung und streckte meine Hand nach ihrer aus, meine Handfläche zeigte nach außen, mein Daumen nach unten, als würde ich zielen, Gangster-Style. Das war eine gewagte Geste für ein erstes Date, aber sie funktionierte; Asja schlug mit einem dreckigen Grinsen ein und wir gingen los.
»Hast du lange gewartet?«, fragte sie.
»Zwei oder drei Minuten.«
Die ersten Schritte waren mechanisch, da wir beide offenkundig überwältigt waren. Ihre Hand fühlte sich kalt an. Sie ballte sie sofort zur Faust und legte sie in meine wie in einen gefütterten Umschlag. Ich lächelte. Sie machte es sich gemütlich. Fünf Schritte später ließ sie kurz los, kitzelte meine Handinnenfläche mit den Spitzen ihrer Fingernägel und sah mich erwartungsvoll an. Ich freute mich wie blöd und machte dasselbe bei ihr. Wir lächelten und hatten unser erstes Ritual gefunden.
»Willst du Kaugummi?«, fragte ich und befingerte ein Päckchen in meiner rechten Tasche. Damals war das ein rares Gut, aber mein Vater hatte ein Hilfspaket von einem seiner ehemaligen Geschäftspartner in Slowenien bekommen und daher hatte ich welche.
»Nein«, antwortete sie schroff und hörte auf zu lächeln, als sei sie beleidigt. Ihr Körper versteifte sich, als wäre sie von etwas getroffen, etwas Widerlichem.
Sie blickte auf ihre Füße, dann von mir weg.
»Okay.«
Ich zog das Päckchen aus der Tasche, befreite ein einzeln verpacktes Kaugummi und schob es mir zwischen die Zähne, um es aus dem Papier zu ziehen. Ihr
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