Scherben
Geisteskranker? Ich dachte, du hast sie nicht mehr alle.«
»Ich dachte auch, ich hab sie nicht mehr alle.«
»Wieso bist du nicht einfach gekommen und hast es mir gesagt, du Idiot?«
»Ich dachte, ich hätte es mir bloß eingebildet.«
»Du bist tatsächlich ein Idiot. Komm wir gehen, bevor es klingelt.« Sie nahm mich am Ärmel und zog mich mit. Plötzlich dämmerte mir, was sie vorhatte. Meine Füße wurden schwer.
»Jetzt gleich?«
»Ja, jetzt gleich. Wann denn sonst?«
»Ich hab Angst.«
»Du bist ein Idiot«, und bevor ich Zeit hatte, an meinen Achseln zu schnüffeln, mir die gewölbte Hand vors Gesicht zu halten, um zu prüfen, ob ich aus dem Mund stank, oder mir mit der Zunge über die Zähne zu fahren, auf der Suche nach Speiseresten, wurde ich zu Asja gezerrt und ihr vorgestellt, einer zierlichen Person mit glattem braunen Haar, großen strahlenden Augen und einem noch strahlenderen Lächeln. Ihre winzige Hand schoss aus ihrem Ärmel, um kurz meine zu schütteln und flutschte wie ein Schildkrötenhals schnell wieder zurück.
»Asja. Schön, dich kennenzulernen.«
Ich stammelte meinen Namen. Jaca trat beiseite, und ein paar neugierige Teenager scharten sich um sie, grinsten und guckten rüber. Ich bedeutete Asja, mir zu folgen, und ich glaube, sie fragte wieso, kam aber trotzdem mit. Wir gingen den Gang entlang, weg von ihren Mitschülern, aufgeregt und benommen und schweigend, unsere Gefühle wie kleine, fast sichtbare Explosionen um uns herum.
»Willst du heute Abend was machen?«, hörte ich mich fragen. Meine Stimme klang wie eine Kleinkaliberkugel, die in meinem Schädel hin und her sprang.
»Ich kann nicht.«
Ich merkte, wie ich in mir zusammenfiel, verdorrte. Gut, dass ich diese Stimme hatte, die weitersprach, während ich litt, dieses andere Ich.
»Und morgen?«
Sie machte ein gequältes Gesicht. »Auch nicht.«
»Warum nicht?«, fragte meine Stimme fröhlich.
»Meine Eltern lassen mich an Schultagen nicht raus.«
Mein Leiden schaltete einen Gang herunter. Dämlich stellte ich die Frage, die auf der Hand lag:
»Wie ist es mit Freitag?«
»Okay«, sagte sie, und ich hörte auf zu leiden.
Auf der Brücke mit den Statuen, hatte sie gesagt. Ich wusste, wo das war, doch als ich aus der Wohnung ging, folgte ich in einem Anfall von wahnsinniger Zwanghaftigkeit dem Flusslauf, für alle Fälle. Fünfundvierzig Minuten vor dem Rendezvous befand ich mich auf der Brücke, ging gequält auf und ab und zählte meine Schritte.
Die Brücke war ein beklemmender, parallelogrammförmiger Sarg aus massivem Stahl und Zement, der sich schief über den ausgemergelten, zitternden Fluss beugte. Seine steinernen Wächter, diese eineiigen Vierlinge, standen ewig an den Ecken, einander abgewandt, gebückt unter dem Gewicht des Lichts, das sie spenden sollten. Wuchtige Laternen lasteten auf ihren Schultern wie Globen, plumpe Discokugeln aus Zement, und sie ertrugen sie in der Haltung des Atlas. Ein muskulöses Bein aufrecht auf dem Sockel, das andere, kaum gebeugt, zum Ausbalancieren nach vorne gesetzt, fügten sie sich in ihre bedeutungslose Bestimmung, hielten die toten Laternen empor, die längst durch Granatsplitter, Detonationen oder fehlenden Strom erloschen waren.
Einer der Brüder hatte seinen Ellbogen verloren, und nun war sein Drahtskelett sichtbar, trotzdem hielt er mit unveränderter Miene an seiner Aufgabe fest, sein Blick für immer blind für die Absurdität der Welt, sei sie aus Stein oder Fleisch.
Andererseits ist es möglich, dass die Erscheinung der Dinge meinem tiefsitzenden Hang zur Selbstquälerei geschuldet war, die momentan in Nachdenklichkeit umschlug,welche wiederum an Irrsinn grenzte. Zwölf Schritte betrug der Abstand zwischen zwei Brüdern auf derselben Seite des Flusses, dreißig Schritte zwischen denen auf derselben Brückenseite, sechsundzwanzig zwischen den Brüdern der kurzen Diagonale und vierunddreißig zwischen denen der langen. Ich maß die Abstände immer wieder aus, um das Warten zu verkürzen und den lähmenden Gedanken zu unterdrücken, dass sie vielleicht gar nicht auftauchen würde. Als mir bewusst wurde, was ich da tat, funktionierte es nicht mehr, plötzlich zweifelte ich daran, dass ich überhaupt am richtigen Ort war, und durchforstete meine Erinnerung nach einer anderen Brücke mit Statuen. Nach fieberhaftem Nachdenken wurde mir klar, dass es keine andere Brücke gab, und ich blickte die Steinbrüder an, als wollte ich mich bei ihnen vergewissern.
Der
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