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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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dass sich der Hofnarr nicht über den König lustig machen sollte, sonst wird ihm der Kopf abgeschlagen.«
    Mustafa antwortete mit einem weiteren beseelten Furz.
    Doch dann, im Keller, mussten sie sich vor dem Komitee, das an Gefängnistischen Platz genommen hatte, nackt ausziehen. Eine Traube Mädchen drängtesich oben vor den Fenstern, sie spähten durch die Gitterstäbe, kicherten, pressten sich die Hände vor den Mund und hielten Blätter mit Wertungsnoten hoch, wie Punktrichter beim Eiskunstlauf. Mustafa bekam eine 4, eine 5, zweimal eine 6 und eine 7. Er wollte schlucken, aber es kam alles wieder hoch, Batteriesäure. Normalerweise hätte er automatisch nach unten gesehen, aber er ertrug seinen eigenen nackten Anblick nicht.
    Eine Armeeschwester zählte nach, ob alle ein vollständiges Set Eier hatten und machte entsprechende Einträge in ihren Akten. Sie lächelte angesichts dessen, was sich zwischen den Beinen des Riesen fand. Mit dem Ding hätte man an Land paddeln können. Er stand da, immer noch mit einer Wahnsinnsangst, dazu ein Veilchen auf dem Wangenknochen, und weinte.
    »Hosen hoch, meine Damen!«, befahl sie und streifte die Latexhandschuhe ab, mit denen sie alle angefasst hatte. »Bewegung.«
    Hinter den Tischen wurden Uniformen aufgeknöpft, Augen waren blutunterlaufen, Haare vorzeitig ergraut, Mundwinkel zeigten nach unten, und ein Kugelschreiber tappte in unveränderlichem Rhythmus auf die Tischkante. Eine Hand nahm Mustafas Akte entgegen, Buchstaben und Zahlen wurden in Augenschein genommen. Mustafa, der nicht mehr nackt war, spürte erneut den Kitzel seiner neuen inneren Einstellung. Es war wie ein Wahn im Hinterkopf, bar jeden Überlebensinstinkts. Er war zu einer Nutte der billigen Witze geworden.
    »Welche Schule besuchen Sie?«
    »Das Gymnasium.«
    »Sind Sie gut in Mathe?«
    »In Mathe? Herausragend.«
    Der offenkundige Sarkasmus der Antwort ließ graumelierte Augenbrauen nach oben schießen. Mustafas Gesicht wurde eindringlich gemustert. Kurzes Innehalten.
    »Für welchen Bereich der Streitkräfte halten Sie sich für besonders geeignet?«
    »Die Marine, würde ich sagen, ich bin ein … ein ausgezeichneter Schwimmer.«
    Bosnien und Herzegowina hat zwar so was wie einen fünf Zentimeter breiten Zugang zur Adria, trotzdem ist die bosnische Marine eindeutig ein Witz. Alle im Kellerraum verstummten. Das Trommeln des Kugelschreibers setzte aus. Hinter dem Tisch wurden Lippen aufeinandergepresst und Augen wütend zu Schlitzen verengt. Mustafas Akte wurde abgestempelt, als wollte jemand eine Küchenschabe zerquetschen.
    »Ich denke, bei den Sondereinheiten wird es Ihnen gut gefallen. Jedenfalls für kurze Zeit. Der Nächste!«
    Er liegt auf dem Rücken und starrt in den Nachthimmel, sucht nach dem Gesicht Gottes. Er murmelt alte arabische Wendungen, die keinerlei Bedeutung für ihn haben, da er sie als Kind rein phonetisch gelernt hat. Er hat sich vollgeschissen. Er hat sich bepisst. Ihm ist kalt.
    Der Himmel wird von Geschossen zerpflügt. Explosionen. Artilleriefeuer.
    Er betet auf die einzige Art, die er kennt, und umarmt sein leeres Gewehr.
    Er liegt auf halber Strecke zwischen den Schützengräben.

Auszüge aus Ismet Prcićs Tagebuch
November 1999
    Ich bin durchgedreht, mati . Schon wieder. Dabei dachte ich, mir ginge es gut. Und wie jedes Mal ist es Melissas Kälte gewesen. Wir waren bei ihren Eltern zu Hause in Thousand Oaks (Gott sei Dank waren sie nicht da) und haben uns über irgendwas Blödes gestritten. Sie wollte, dass ich später beim Abendessen mein gutes Sweatshirt trage, das ohne Löcher und ohne das halbnackte Cowgirl vorne drauf, und ich fing an, aufgeregt zu schwadronieren, dass ihre Eltern mein wahres Ich kennenlernen sollten, und was zum Teufel sei schon so schlimm an einem Loch unter dem Arm, wenn die Person am Tisch höflich und liebevoll ist, und sollten wir nicht endlich aufhören, so oberflächlich zu urteilen, und sie – wurde kalt.
    Ich hatte das vorher schon erlebt, diesen Wandel, aber in dem Moment habe ich nicht damit gerechnet. Normalerweise passiert das nur, wenn wir uns schlimm streiten. Aber es ging natürlich gar nicht um das Sweatshirt. Der Blick, mit dem sie mich ansah, ließ mich erstarren, er gab mir das Gefühl, unerwünscht zu sein. Ich fing an zu heulen, aber sie blieb kalt. Ich bettelte sie an, damit sie etwas Warmes sagte. Stattdessen blätterte sie in einer Kochzeitschrift. Mein Schmerz verwandelte sich in Wut.
    Am Ende des Flurs stand ein leerer

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