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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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war, das er aber mit der Zeit ganz gut kennenlernte. Die täglichen Abläufe blieben ihm fremd, solange er Teil davon war, und waren ewig vertraut, wenn er aufwachte. Die Einzelheiten waren unglaublich langweilig. Er träumte davon fernzusehen und erinnerte sich am Morgen, was er sich angeschaut hatte.
    Meistens erduldete Mustafa diese virtuellen Nicht-Abenteuer, wie man einen künstlerisch wertvollen Film erduldet, wenn gerade nichts Besseres läuft. Der einzige Unterschied war, dass er mittendrin war, aber zugleich wusste, dass er nicht zu den anderen gehörte, wie eine zweite Besetzung, der man vergessen hat zu sagen, welches Stück gespielt wird. Bewusst und zugleich im Traum. Immer mal wieder ließ ihn das Schmierenhafte daran die Nerven verlieren, er fiel aus der Rolle und schrie was Dramatisches wie: Wer seid ihr? Oder: Wo bin ich? Oder: Ihr existiert gar nicht! Er verpasste seinen Mitspielern Schläge, und seine Fäuste durchstießen den Stoff, aus dem sein Traum war, zerstrten ihn, bescherten ihm ein böses Erwachen, erfüllt von Angst, für die es keinen Grund gab.
    Als er also mit siebzehn Jahren zitternd, aufgeregtund mit Brille auf der Nase zwischen ungefähr dreißig nervösen Männern seines Alters aufwachte, alle mit scheinbar identischen Akten in Händen und Gesichtern, als warteten sie auf ihre eigene Hinrichtung in einem nach Krankheit und scharfen Putzmitteln riechenden Gang, da brauchte er nicht lange, um zu dem Schluss zu gelangen, dass er die Tristesse seiner Träume ausgleichen und aus seinem Leben etwas Besonderes machen musste. Die Brille musste weg. Mit seinen Augen war alles in Ordnung. Er grinste verwegen, während eine neue Haltung Besitz von ihm ergriff, Schauer liefen ihm über den Rücken, Energiewellen schossen den Gang rauf und runter und infizierten alles.
    »Nehmen die uns Blut ab, weißt du was?«, fragte ein breitschultriger Riese neben ihm, seine Stimme piepste und donnerte im Wechsel wie der Schleudergang einer kaputten Waschmaschine. Das Missverhältnis zwischen seiner pubertär öligen Unbeholfenheit und seiner sichtbar panischen Angst auf der einen Seite und seiner beeindruckenden, von einem Vollbart gekrönten Statur auf der anderen berührte Mustafa peinlich.
    »Oh ja«, erwiderte er.
    Die Hände des Riesen begannen zu zittern, die Akte, die sie hielten, knisterte leise. Dann kamen sie zur Ruhe, strichen mit fiebrigem, insektenartigem Eifer die wichtigen Papiere glatt und legten sie quer auf dem gigantischen Schoß ab. Solcherart von Verantwortung befreit, drückten die Hände, erneut zitternd, die riesigen Ellbogen auf die riesigen Knie und öffneten sich, um einen ebenso riesigen Kopf zu stützen, der alle Anzeichen tödlichen Erschreckens aufwies.
    Mustafa fand sie erstaunlich, die Panik dieses Typen.Er kam offensichtlich vom Land, sein Körper stand in voller Blüte, gestärkt von Feldarbeit und üppiger Hausmannskost – das Gegenteil von Mustafas blassem und tuberkulösem Körper. Wahrscheinlich hat er in seinem ganzen Leben noch keine Spritze bekommen; seine Angst vor allem, was mit Krankenhäusern zu tun hatte, war auf dramatische Weise evident. Wahrscheinlich war er zum ersten Mal in der Stadt, und wahrscheinlich wäre es ihm auch nie eingefallen, sich in die Stadt zu begeben, es sei denn, um sich einer Notoperation zu unterziehen, oder, wie in diesem Fall, zum Kriegsdienst eingezogen zu werden.
    »Achte darauf, dass du weiteratmest, wenn sie dir Blut abnehmen«, sagte Mustafa. Etwas in seinem Inneren hatte ihn das sagen lassen, eine Art Neid. Er konnte so viel Angst in einem so starken und dem eigenen so überlegenen Körper nicht ertragen.
    »Warum?«, der Riese blickte auf, seine Augen traten aus ihren Höhlen.
    »Du willst doch keinen Herzinfarkt bekommen. Die schieben dir eine fette Spritze direkt hier in die Vene. Wenn du auch nur eine Sekunde aufhörst zu atmen« – er legte eine dramatische Pause ein, hielt die Luft an und ließ die Bombe platzen –, »stirbst du.«
    Die Lippen des Riesen bebten. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, als lebte ein außerirdisches Wesen unter seiner Haut. »Oh, Mutter«, sagte er und vergrub wieder den Kopf in den Händen. Mustafa grinste, gleichermaßen aufgekratzt und angewidert von dem, was er getan hatte. Die anderen Rekruten kicherten, versuchten, sich das Lachen zu verkneifen.
    Die Tür, die ihm am nächsten war, flog auf und knallte an die Wand. Augenblicklich verstummte das Geraune, die Köpfe drehten sich. In der

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