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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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summte mit einer seltsamen Macht, und anstatt am Ufer entlang in Richtung Schule zu gehen, betrat ich die Brücke, etwas zog mich dorthin. Als ich an das Geländer trat, spürte ich diese Intensität in meinen Eingeweiden, als unmittelbare Schwäche meiner Muskeln, so als würde mir der Fluss die Lebenskraft rauben, mich auflösen. Ich umfasste das Geländer, bevor ich nach unten blickte. Einen Moment lang sah ich ein Stuhlbein, das unter mir aus dem Strom lugte, es hüpfte in der braunen Brühe auf und ab, präsentierte seine schnörkelige, hölzerne Form; im nächsten war es nur noch ein schwarzer Strich tief unten im Fluss, dann gar nichts mehr. Verschwunden.
    Ich stellte mir vor, dass es von hier entkam, aus der belagerten Stadt, dass es bis runter zur Spreča gespült wurde, die es durch die feindlich besetzten Gebiete im Osten zur Drina trug. Die Drina würde es nach Norden mitnehmen, zwischenBosnien und Serbien hindurch, und an die Sava übergeben, verborgen im Blut der Menschen beiderseits der zerklüfteten Grenzen. Die Sava, so groß wie sie war, hätte kein Problem damit, es in die Donau zu treiben, und die Donau, dieser Koloss, würde für eine sichere Passage mitten durch Belgrad sorgen und es schließlich aus dieser gottverlassenen Halbinsel heraus und ins Schwarze Meer befördern.
    Wenn es aber erst einmal in dessen tintenschwarzen Wassern schwamm, was würde das Stuhlbein tun, so wunderschön geschnitzt, aber ohne den Rest des Stuhls? Ohne dass jemand drauf sitzen wollte? Ohne dass jemand draufstieg, um eine Glühbirne einzuschrauben? Würde es irgendwo an einen Strand geschwemmt werden und zu Treibholz verkommen, würde es in einem Freudenfeuer landen, entfacht von jungen Menschen, die betrunken über die Flammen sprangen, ihre Jugend feierten? Würde es irgendeine gequälte bulgarische Seele in den Docks von Warna einsammeln, eine kleine Skulptur von einer Mutter, die ein Kind hält, daraus schnitzen und das Stuhlbein dadurch unsterblich machen? Würde irgendein gewöhnlicher Verbrecher es aufheben und seinem Opfer in einer Istanbuler Seitenstraße den Schädel damit einschlagen?
    Ich starrte auf das aufgewühlte, strömende Wasser unter mir, und es kam mir vor, als befände ich mich auf einem Schiff, das mich davontrug, weg vom 15. September, doch dann fuhr ein UN-Jeep kreischend hinter mir über die Brücke, der Motor dröhnte, der Fahrer trug eine rote Sonnenbrille, obwohl sich die Sonne hinter den Wolken versteckte, und ich machte vor Angst einen Satz und rannte zum Ufer, und als ich merkte, dass ich gar nicht überfahren wurde, schnappte ich mir einen Stein vom Boden und warf ihn dem Jeep hinterher. Er prallte drei- oder viermal vom Asphalt ab und blieb im Gebüsch vor dem Hotel liegen. Ich sah die Bremslichter aufleuchten, als er vor der Kurve abbremste, abbog und in Richtung meines Viertels verschwand. Der Mann mit dem roten Gesicht hob kurz den Blick und widmete sich wieder seiner Zeitung. Mit Ausnahme des Flusses versank alles erneut in Schweigen. Ich klappte meine Stinkefinger wieder ein und ging zur Schule.
    Asja war Frühaufsteherin, und ich wusste, dass sie als eine der Ersten in der Schule eintreffen würde. Sie tat alles, um ihren Eltern zu entkommen, die sehr streng, altmodisch und überfürsorglich waren; sie nahmen ihr regelrecht die Luft zum Atmen. Wir hatten nur den Freitagabend und den Samstagabend, dazu die wenigen Minuten tagsüber in der Schule. In letzter Zeit hatte ich sie häufig nach Hause gebracht, wodurch wir eine zusätzliche Stunde Händchen halten und uns küssen konnten, bevor ich sie loslassen musste (am Eingang zum Fußballstadion in der Nähe ihres Hauses), in der Distanz kleiner werden und mit einem kurzen Winken hinter dem Zeitungskiosk entschwinden sah.
    Ich wusste auch, dass sie lieber die Abkürzung am Fluss nahm statt des langen Wegs über die südliche Ringstraße, also platzierte ich mich auf halber Strecke am Kiesweg und setzte mich auf ein Brett. Das Brett hatte einen dicken Hubbel, so dass ich immer wieder aufstehen und meinen Hintern ausruhen musste. Als ich sie in ihrem schwarzen Pulli kommen sah, versteckte ich mich im Gebüsch oberhalb der Uferbefestigung, dann sprang ich heraus und stieß undefinierbare Laute aus, um sie zu erschrecken, doch sie drehte sich nur um und stubste mich auf die Brust.
    »Du Nuss«, sagte sie, »ich hab deinen Kopf schon von der Schuhmenschenbrücke aus gesehen.«
    »Willst du damit sagen, mein Kopf ist zu groß?«
    »Ich

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