Scherben
schämte und ihm das Fiasko mit der Biene peinlich war, sagte er ja.
Mustafa sagte ja, weil sie süß war, zierlich und kokett. Weil sie Doc Martens und zerissene Jeans trug und er irgendwie verknallt in sie war. Weil er glaubte, dass sie vielleicht lange zusammen sein würden.
Blödsinn. Er sagte ja, weil man in dem Alter niemals nein zu jemandem sagte, der einen möglicherweise eines Tages mal entjungfern könnte.
Als sie ihm zublinzelte und sagte komm, wir gehen , sagte er ja. Sie sagte, ja, was? Und er sagte ja, gehen wir. Sie knutschten bis zehn Minuten vor Beginn der Ausgangssperre im taufeuchten Gras vor dem Haus, in dem sie wohnte. Sie schenkte ihm ein selbstgemachtes Armband, das sie immer getragen hatte und fragte: Weißt du, was das ist? Eigentlich wusste er’s nicht, aber er sagte ja, und sie küsste ihn, bis ihm Hören und Sehen verging. Dann raste er nach Hause.
Am nächsten Abend beging Mustafa den beinahe tödlichen Fehler, sie aus Spaß als kleines Mädchen zu bezeichnen. Damals war sie fünfzehn. Sie standen vor dem bosnischen Nationaltheater, dem neuesten Hotspot ihrer vergnügungsreichen, belagerten Stadt. Sie knallte ihm eine und stürmte davon, nur um eine Minute später wiederzukommen und ihm einen blutigenTampon an den Kopf zu werfen, direkt vor allen Leuten. Er war verwirrter als ein Klecks Menschensperma in der dritten Kammer eines Froschherzens.
Später am selben Abend, als er alleine nach Hause ging, sprang sie aus dem Gebüsch am Flussufer und trat ihm in die Eier. Die Pistole wirkte riesig in ihren kleinen Händen. Sie kauerte sich über seinen zuckenden Körper und zielte auf sein rechtes Auge. Immer wieder spuckte sie über seinen Kopf hinweg ins Gras. So hockte sie lange da, spuckte und schaute.
Er hatte keinen Zweifel, dass das Gehirn hinter diesen bösen Augen einen motorischen Reiz an die Muskeln ihrer kleinen Hand senden würde, die den Abzug betätigen und ihn für immer ins Auwerderland befördern würde. Und ihm fiel nichts ein – was er sagen oder was er sonst tun sollte. Sein Leben zog nicht blitzartig an ihm vorüber. Er dachte nicht an die Menschen, die er liebte. Er dachte auch nicht an die, die er hasste. Er hielt sich einfach nur die Hände vor den Sack, ein lächerlicher Instinkt, wenn man in die Mündung einer 9-mm-Zastava blickt.
Später gelangte er zu der Überzeugung, dass sie etwas in seinen Augen gesehen haben musste, das sie dazu brachte, ihn nicht zu töten. Vielleicht lag es an seiner vollkommenen Abwesenheit von sich selbst. Was es auch war, sie zog ihm das Armband vom Handgelenk, ging weg und würdigte ihn nie wieder eines Blickes.
Nach diesem Zwischenfall änderte sich für ihn alles. Er ging nicht mehr aus und verbrachte den Großteil seiner Zeit mit den Kellermenschen, wie diejenigen genannt wurden, die den Krieg nie als Normalität akzeptierten und voller Angst unter der Erde lebten.
Ein Jahr später wurde mitten im Banja Park die Leiche eines Mannes namens Goran gefunden, der – wieMustafa gehört hatte – ihr zweiter Freund gewesen war. Jemand hatte ihn erschossen und mehrfach auf ihn eingestochen. Man erzählte sich, er habe ihr so lange zugesetzt, bis sie mit ihm geschlafen habe, und während eines Streits damit gedroht, ihrem Vater, einem strenggläubigen Muslim, davon zu erzählen. Sie habe dann ihren kleinen Bruder davon überzeugt, ihr dabei zu helfen, das Problem zu beheben. Sie hätten ihn gemeinsam getötet. Da ihre Mutter Richterin war, landete sie im psychiatrischen Krankenhaus in Kreka.
Und obwohl Mustafa eingezogen wurde und kämpfen musste und sah, wie Menschen in Stücke gerissen wurden, Kadaver in Schützengräben verrotteten, Kinderköpfe auf Holzpfähle gespießt und Kreuze in Unterleibe und Stirnen geschnitten wurden, obwohl es bei ihm selbst einige Mal knapp war, zum Beispiel, als der Granatsplitter den Transporter durchschlug und ihm die Feldbluse zerriss, als er sich gerade bückte, um seinen Stiefel zuzubinden, war er dem Tod trotzdem in jenem Moment am nächsten gewesen, als sie sich ihr Armband zurückholte. Bei allen anderen Gelegenheiten war sein Leben an ihm vorbeigezogen, und er hatte an die Menschen gedacht, die er liebte, und auch an jene, die er nicht ausstehen konnte.
(… mustafa nalić zieht in den krieg …)
Seine Träume waren langweilig, so wie das Leben. Sie waren erfüllt von ein paar Menschen, die er nie richtig kennenlernte, die alltägliche Dinge taten in einem Haus, in dem er eigentlich nie
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