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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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zuckersüß, dass einem davon übel werden konnte.
    Einen Monat zuvor war ich einberufen worden, und es war so gewesen, wie man es sich vorstellte: Einschüchterung, Demütigung, Gehorsam.
    Ein Arschloch in Tarnkleidung rieb sich tatsächlich die Hände und erklärte mir, er könne es kaum abwarten, mir die Mähne abzurasieren und mich in den Schützengraben zu schicken. Beim Eignungsgespräch gab ich den Harten, log aber und behauptete, ich sei gut in Mathematik, weil ich hoffte, zum Artilleriesoldaten ausgebildet zu werden und damit einen möglichst großen Abstand zwischen mich und den Feind zu legen, sobald ich ins Auge des Krieges geschickt wurde, doch der vorzeitig ergraute Colonel meinte, wir hätten kaum Artillerie, und um das bisschen, das wir hatten, würden sich bereits Leute kümmern, die was davon verstünden, und wie wäre es stattdessen mit einer rosigen Zukunft im Fleischwolf: bei der Infanterie. Die Frage war rhetorisch. Er sagte, ich solle mich am 15. September am Stützpunkt melden, um meinen Dienst abzuleisten, und drückte mir einen roten Stempel in die Akte. TAUGLICH. Ich gab den Entspannten. Ich schauspielerte.
    Ich fühlte mich, als hätte ich ein Haltbarkeitsdatum erhalten, als wäre mein Leben am 15. September 1995 abgelaufen, als müsste ich jedem Augenblick, der mir noch blieb, ein Maximum an Freude abgewinnen. Ich konzentrierte mich darauf, so viel Zeit wie möglich mit Asja oder alleine mit meinen Gedanken zu verbringen. Ich hörte auf, mit Omar Farbverdünner zu schnüffeln, weil ich »mein Leben bewusst erlebenwollte«. Einmal flippte ich aus, weil ich plötzlich Angst hatte zu sterben, ohne all die Dinge zu wissen, die es zu wissen gab, also blieb ich nachts mit Taschenlampen oder Kerzen auf und las mich durch die Klassiker meiner Mutter. Ich stopfte mich voll mit Puschkin, Pasternak und Dostojewski. Alle vier oder fünf Tage, wenn wir in unserem Bezirk mitten in der Nacht drei Stunden Strom bekamen, sah ich die Filme von Bergman und Tarkowski, die ich mir von Asmir geliehen hatte, während meine Mutter einen Laib Brot nach dem anderen in den Ofen schob. Manchmal wurde ich sentimental und blätterte in meinen alten Tagebüchern und weinte über den, der ich einmal gewesen war.
    Irgendwann Ende März, nachdem ich mich eine ganze Nacht lang hin- und hergeworfen, meinen mit offenem Mund schlafenden Bruder angestarrt und eine Million wild durcheinander tobende Gedanken erduldet hatte, hatte ich eine Idee, die sich um Asja drehte und von ihr abhing. Das Leben war kurz; wir hatten so wenig Zeit. Ich stand beim ersten Licht auf, würgte ein bisschen Maisbrot mit Rinderfett runter, spülte mit kaltem Kamillentee vom Vorabend nach und verließ die Wohnung, noch bevor einer der anderen aufstand. Nicht, dass es mir was ausgemacht hätte, meine Familie zu wecken: Ich hatte in der Küche gefuhrwerkt, als wäre es mitten am Tag, und die Türen mit Schmackes zugeschlagen. Meinen Rucksack mit den Schulbüchern hatte ich unter dem Bett versteckt.
    Tuzla war trübe und kalt, man musste sich durch feuchten Nebel vorankämpfen. Kaum jemand war unterwegs, nur stumme Schattenmenschen, die sich in finstere Hausflure schoben, nichts berührten, keine Spuren in der Welt hinterließen. Auf den Parkplätzen standen tote Autos, seit Jahren ohne Saft, die Flanken mit rostigen Einschlagslöchern gesprenkelt. Ihre Fensterscheiben, sofern es noch welche gab, waren beschlagen und blind. Kein Lüftchen wehte, und diegrünenden Bäume waren still wie alles andere. Es war ein gutes Gefühl, da draußen allein zu sein.
    Ich überquerte die Straße am Hotel Tuzla, vor dem ein blonder Mann mit rotem Gesicht Kaffee trank und Zeitung las, als befände er sich in Paris. Ausländer waren so. Sie hatten nicht das Gefühl, zur Umgebung zu gehören, weil es nicht ihr Krieg war, und hielten sich deshalb irgendwie für immun gegen dessen Gefahren. Wenn die Einheimischen rannten, trabten sie nur, als könnten die Granaten der Tschetniks amerikanisches Fleisch von bosnischem unterscheiden. Zugegeben, die Mörser waren jetzt ein paar Monate lang seltsam zurückhaltend gewesen, aber davor hatten sie gerade morgens ihre Hochphase gehabt, weil die Tschetniks verhindern wollten, dass die Menschen zur Arbeit gingen, oder versuchten, sie auf dem Weg dorthin zu treffen.
    Die Schneeschmelze hatte die Yala ansteigen lassen, das lehmige Wasser rauschte kaum einen Meter unterhalb der hohen Uferbefestigungen aus Beton vorbei, weg von hier. Es

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