Scherben
Augen sucht ihn aus. Sie ist Dichterin und arbeitet als Dramaturgin am Nationaltheater in Tuzla. Sie kann keine Kinder bekommen, und ihr Mann ist damit einverstanden, dass sie einen Welpen anschaffen, damit es in ihrem Haus auf dem Hügel nicht immer so still ist. Er ist Professor für Musik und Konzertgeiger (einmal hat er für Tito gespielt), und Stille ist nichts für ihn. Er mag Hunde, ist mit ihnen aufgewachsen. Ich sehe den Welpen schnell größer werden, sehe, wie ihm die Frau heimlich Kalbsleber und Chateaubriand zusteckt, sehe, wie der Mann immer wieder ein dickes Stück Seil mit Knoten an beiden Enden von der Terrasse auf das Grundstück wirft und wie der Hund es jedes Mal holt. Ich sehe, wie er eine Seite des Bettes mit Beschlag belegt und wie der Mann ihn mit einigen Schwierigkeiten am Halsband über den gewienerten Parkettboden zieht und aussperrt. Später, als der Mann schläft, lässt ihn die Frau wieder herein, aber die Schlafzimmertür bleibt zu.Ich sehe, wie er eines Tages über einen Zaun springt, als er hinter einer Katze her ist, und von einem blauen Renault gestreift wird. Ich sehe den Krieg, und es wird immer schwerer, Hundefutter aufzutreiben, so dass die Frau Schlachterabfälle und Innereien kauft, davon stinkende Suppe kocht und Brot hineinbrockt. Damit füttert sie den rasch an Gewicht verlierenden Hund. Die dunklen Ringe unter ihren Augen kehren zurück. Der Hund jault und versteckt sich, als die Granaten einschlagen. Die Frau verzweifelt und umarmt das wimmernde Tier im Keller, schläft neben ihm auf einer Pritsche. Der Mann schläft im Schaukelstuhl. Der erste Winter kommt, es ist nicht mehr zu übersehen, dass der Hund leidet, und sie können nichts dagegen tun. Ihre eigenen Sachen hängen längst wie Ponchos an ihnen, der Mann muss neue Löcher in ihre Gürtel bohren. Sie wollen den Hund in ein Heim geben, aber der Wärter lacht sie aus. Sie wollen ihn jemandem schenken, der bereit ist, ihn zu nehmen, laufen sogar den weiten Weg bis zum UN-Stützpunkt in Šićki Brod und versuchen, ihn dort loszuwerden. Niemand will ihn haben. Er sagt, sie müssen ihn aussetzen oder einschläfern. Sie sagt nein, nein, immer und immer wieder. Was sollen wir denn machen, fragt er. Nein, nein, sagt sie. Mit den letzten Tropfen Benzin fährt der Mann an den Stadtrand, füttert ihm eine Mahlzeit aus gekochter Kuhlunge und Brot, wirft ein dickes Stück Seil so weit er kann Richtung Wald, und als der Hund hinterherläuft, steigt er in den Wagen (den Futternapf lässt er stehen) und fährt weg. Er klappt den Rückspiegel hoch und richtet den Blick stur auf die weißen Linien vor sich. Ich sehe den Hund nicht mehr, aber das Paar sehe ich immer noch. Nein, nein, schreit sie ihn an, als er zurückkommt, und sinkt durch seine Arme und Finger auf den Boden. Nein, nein, sie schließt sich im Keller ein und verweigert die Nahrungsaufnahme. Nach zwei Tagen bricht er die Tür auf, und der Nachbar fährt sie ins Krankenhaus. DasKrankenhaus ist voller durchgedrehter Ärzte und beinloser Soldaten. Sie geben ihr Beruhigungsmittel und schicken sie nach Hause. Der Mann kocht für sie, füttert seine Frau mit Suppe, Tag für Tag, Löffel für Löffel. Er wechselt ihre Kleidung, wäscht die Sachen in der Badewanne. Sie rührt sich nicht und redet nicht. Der Krieg geht weiter. Ihre Lebensmittelvorräte schwinden, ebenso ihr Geld. In der belagerten Stadt gibt es keine Konzerte oder Theaterstücke, jedenfalls keine, für die jemand etwas bezahlt, und sie haben kein Einkommen. Was er von der Musikschule bekommt, die monatlichen Zuteilungen von Mehl und Öl, es reicht nicht. Er muss Sachen aus dem Haus verkaufen. Früher haben sie gut gelebt, deshalb haben sie viele hübsche Sachen, die er auf den Markt trägt und spottbillig verkauft: einen Nerzmantel für einen kleinen Sack Kartoffeln, eine antike Standuhr für einen Sack Maismehl. Eines Tages kommt er nach Hause, und sie ist tot, möglicherweise war es Selbstmord, aber niemand hat Zeit für eine Autopsie. Jeden Morgen geht er an ihr Grab und sammelt Laub ein, fegt Schnee oder jätet Unkraut. Er wird dünner, fängt an, auf der Straße Geige zu spielen, für eine Zigarette oder eine wertlose Münze bringt er das Instrument zum Weinen. Er weigert sich, es zu verkaufen. In den Sachen seiner Frau findet er eine Dose deutsches Hundefutter, die sie übersehen haben, ein paar Tage schläft er damit, dann, nachdem er die gesammelten Werke von William Faulkner für zwei Schachteln Pasta
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