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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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will sagen, dass du eine Nuss bist.«
    Ich setzte zu einem langen Kuss an (ich hatte einen nötig), aber sie berührte meine Lippen nur und drehte sich weg, nahm meine Hand und ging weiter. Normalerweise hörten wir erst auf, aneinander rumzulutschen, wenn wir keine Luft mehr bekamen, wie Muschelkrebse. Dies war eindeutig kein gutes Zeichen, doch der Gedanke war so schlimm, dass ich ihn ignorierte und alles auf meinen kleinen Plan setzte.
    »Was hast du heute für Stunden?«
    Sie verengte die Augen. Kälte lag in ihrem Blick. »Was hast du vor?«
    »Ich hab gedacht, vielleicht könnten wir den ganzen Tag schwänzen, in den Park gehen und knutschen.«
    Sie brummte. Zum Spaß piekte ich ihr in die Seite. Sie wand sich und versteckte die Hände in ihren Wollärmeln. Ich versuchte es noch einmal, aber sie schlug mir auf die Finger.
    »Hör auf!«
    »Was denn?« Ich wollte sie von hinten umarmen, aber sie entwand sich.
    »Hör auf, hab ich gesagt!« Sie ging weiter. Ich ging hinter ihr her.
    »Was ist los?«
    »Nichts.«
    »Von wegen.«
    Sie warf die Arme in die Höhe. Ihre Füße knirschten auf dem nassen Kiesweg. Der Fluss summte. Auch meine Schritte knirschten, aber nicht im selben Takt wie ihre, und die Geräusche, die wir drei in der Welt machten, fügten sich zu einem lückenlosen Scharren zusammen.
    »Warum bist du so?«
    Scharren, sonst nichts.
    »Sprich mit mir, bitte.«
    Scharren. Und plötzlich konnte ich die akustische Monotonie nicht mehr ertragen und blieb stehen. Es kam mir vor wie das einzig Mögliche, das Einzige, was ich tun konnte: stehenbleiben. Der Fluss summte, und jetzt klang er wieder wieein Fluss. Ohne meine Schritte hörten sich Asjas an wie die einer davoneilenden Person.
    Sie erreichte eine Biegung und blieb stehen, wie von einer Fernbedienung gesteuert. Mein Herz machte Sprünge. Sie brachte es nicht fertig, einfach wegzugehen. Ich dachte, sie würde umkehren und zurückkommen, aber sie blieb stehen. Es wirkte unnatürlich: ihre Starre, ihre Unbeweglichkeit. Und sie dauerte an, so lange, dass ich kurz dachte, ich würde halluzinieren und Asja sei in Wirklichkeit längst weg, mein Gehirn habe einen Schnappschuss gemacht, weil es ihren Weggang nicht verkraftet hatte, und mich für immer in diesem herzbrecherischen Augenblick begraben. Dann bewegte sich ihre rechte Hand fast unmerklich. Sie beugte den ganzen Arm am Ellbogen und schob sich die Hand ins Kreuz, wo sie wie wild zu rotieren begann.
    Was sollte das?
    Verdattert, aber wieder bei Kräften, ging ich zu ihr. Sie machte einen unerträglich langsamen Schritt rückwärts, ihre Hand schlug Purzelbäume und Räder vor dem Hintergrund ihres schwarzen Pullovers. Ich trat auf sie zu und gab ihr von hinten einen Kuss in den Nacken. Sie roch nach mottenzerfressenen Klamotten und Seife. Ich hielt ihre besessene Hand in meiner rechten, nahm sie mit der linken in den Arm und spürte, dass sie meine Finger drückte, wie sie es noch nie zuvor getan hatte. Ich hielt es für ein Zeichen unverwüstlicher Liebe, doch dann sah ich den Hund, und meine Knie wurden weich.
    Fünf Meter vor uns saß eine riesige deutsche Dogge. Sabber lief ihr aus dem offenen Maul. Ihr Blick war brutal und wütend. Ihre Rippen schienen durch das räudige Fell. Sie knurrte einmal, und ich versteinerte, meine Gedanken hoben ab, entfernten sich von den beiden Teenagern, die zu Tode erschrocken dicht aneinandergedrängt auf dem Uferweg standen, und reisten in die Vergangenheit. Ich bin sechsJahre alt und der Schäferhund meines Cousins Caro verbeißt sich in meinem Oberschenkel, als ich ihn streicheln will. Ein Mann schreit und schlägt ihn mit der flachen Hand, aber er lässt nicht locker. Der Mann nimmt die Fäuste. Die Schläge klingen hohl und gleichzeitig fleischig. Ich bin elf Jahre alt und fahre auf dem Fahrrad an den Weiden am Fluss entlang, und ein fieser kleiner schwarzer Terrier namens Johnny rennt hinter mir her, und ich packe den ersten Ast, den ich erreichen kann und klettere wie ein fetter Affe hoch hinauf in die Baumkrone, während mein geliebtes grünes »Pony« das Ufer hinab ins Wasser rollt.
    Ich sehe die beiden Teenager auf wackligen Beinen einen Schritt zurückweichen. Das Tier merkt auf, verkürzt die Distanz und geht anschließend wieder in die Hocke. Doch einen Moment lang hat es sich zu voller Größe aufgerichtet. Dann sehe ich den Hund, als er noch ein Welpe in einem Wurf von sechs war (Erinnere ich mich?). Eine dünne Frau mit dunklen Ringen unter den

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